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Meinung: Die Gerechtigkeit ist zur EU-Party nicht eingeladen

Roger Boyes, The Times

Ich traf Alicia Tysiac in Warschau, als sie versuchte, die Klingel ihres Anwalts zu finden. Bevor es ihr endlich gelang, hatte sie fünf Nachbarn mit ihrem Schellen genervt. Als ich sah, wie dick ihre Brillengläser waren, wusste ich warum: Sie war nicht betrunken, sondern halbblind.

Ihre Geschichte ist trostlos. Sie war zum dritten Mal schwanger, als die Ärzte sie warnten: Wenn sie das Kind bekommen würde, müsste sie damit rechnen zu erblinden – Alicia leidet an einer seltenen Augenkrankheit. Die 36-Jährige beantragte eine Sondergenehmigung, den Fötus abzutreiben. Die polnischen Gesetze sind streng, nur im Falle einer schweren Beeinträchtigung ihrer Gesundheit erlauben sie Frauen, die Schwangerschaft abzubrechen. Das war hier eindeutig der Fall.

Aber keiner der Ärzte wollte die notwendige Unterschrift leisten: Sie hatten zu viel Angst vor Kritik aus der Regierung und dem militant katholischen Kollegenkreis. Am Ende ließen sie sich so viel Zeit, dass es für eine Abtreibung zu spät war. Das Kind, eine Tochter, kam auf die Welt und wird geliebt – doch Alicia kann den Topf nicht sehen, in dem sie die Milch aufwärmt.

Vergangene Woche sprach ihr der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 30 000 Euro zu. Die Reaktion aus Warschau war vorhersehbar: Das polnische Gesundheitssystem wird seine Abtreibungspolitik nicht ändern. Im Gegenteil, eine der Regierungsparteien (die Liga polnischer Familien) will Abtreibung ganz verbieten – selbst bei Frauen, die vergewaltigt wurden. Der Abtreibungstourismus von Polen nach Brandenburg wird in den kommenden Jahren vermutlich zunehmen.

Ich erwähne Frau Tysiac hier nicht, weil ich eine weitere Debatte über Abtreibung führen will. Mir geht es darum, auf den offensichtlich zu schwachen Schutz hinzuweisen, den Europas Gerichte – ob der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg oder der Europäische Gerichtshof in Luxemburg – den Bürgern Europas geben. Eine der Institutionen, die die Römischen Verträge geschaffen haben, deren Jubiläum wir in diesen Tagen so zelebrieren, war der Europäische Gerichtshof. In der Theorie sollte er das Herz der Europäischen Integration sein. In der Berliner Erklärung ist von den „gemeinsamen Werten Europas“ die Rede – und es sind die Gerichte, die diese verteidigen sollten. Wie sonst werden die Europäer ihr Vertrauen in die EU wiederfinden? Sicher nicht über das EU-Parlament, wo Abgeordnete die meiste Zeit damit verbringen, Taxirechnungen zu sammeln.

Die Gerichte können die Umsetzung vieler ihrer Entscheidungen nicht erzwingen – sie setzen vielmehr auf die Kraft der öffentlichen Bloßstellung. Der Europäische Gerichtshof hat echte Macht, wenn er sich für eine Verbesserung des Wettbewerbs einsetzt: als es zum Beispiel entschied, dass auch Bier, das nicht nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut wurde, in Deutschland verkauft werden darf. Aber er ist zu schwach, wenn er von den Nationalstaaten Gerechtigkeit einfordert. Dann werden die Richter schlicht ausgelacht.

Vor ein paar Monaten habe ich über Mansur Volud und andere iranische Exilanten in Berlin geschrieben, Unterstützer der sogenannten Volksmudschahedin. Mansur ist Ingenieur, andere sind Zahnärzte, Fußballer, Architekten, Gastwirte – doch für die EU sind sie Terroristen. Wegen der Aussicht auf ein paar lukrative Geschäfte gab Großbritannien dem Drängen der Mullahs in Teheran nach und setzte die Dissidenten auf die EU-Terrorliste – und sperrte damit ihre Konten. Mansurs Freunde zogen vor den Europäischen Gerichtshof. Sie haben gewonnen. Und, welch große Überraschung, die EU-Regierungen weigern sich, dem Gericht Folge zu leisten. Das Urteil passt ihnen nicht. Sie tun so, als drohten sie dem Iran mit Sanktionen, und wollen gleichzeitig gute Beziehungen zu dem Öllieferanten. Die europäischen Gerichte zu ignorieren, kostet ja nichts.

Irgendwann einmal wird Mansur, da bin ich mir sicher, Aufbauminister in einem demokratischen Iran sein. Ich hoffe, dass er sich dann an das freie und gerechte Europa erinnert, das ihn aufnahm – und nicht an jenes eigennützige Europa, das seine Justiz ignoriert. Happy Birthday, Europa. Lass mich der Erste sein, der die Kerzen auf dem Kuchen ausbläst.

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