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Meinung: Die Gerechtigkeitslücke

In Deutschland wird der Rechtsstaat radikal exekutiert

Von Henryk M. Broder Als am 22. Juli dieses Jahres 50 Aktivisten der „Jungen Nationalen Demokraten“ in Miltenberg zusammenkamen, um auf dem Marktplatz der nordbayerischen Kleinstadt eine Kundgebung abzuhalten, ließ der Pfarrer der Jakobus-Kirche 20 Minuten lang die Glocken läuten. Die Neonazis verstanden ihr eigenes Wort nicht mehr, die Kundgebung musste abgebrochen werden. Jetzt droht dem Pfarrer wieder Ungemach. Die Staatsanwaltschaft von Aschaffenburg wirft ihm „Verstoß gegen das Versammlungsgesetz“ vor. Schließlich sei der rechte Aufmarsch ordentlich angemeldet und genehmigt worden.

Hätte der Gottesdiener das braune Jungvolk in sein Gebet eingeschlossen oder den Allmächtigen um Hilfe gebeten, müsste er jetzt nicht mit einem Prozess rechnen. Er ist aber zu weit gegangen. Wie die Berliner Mutter, die den Vergewaltiger ihrer 13-jährigen Tochter im Gerichtssaal geohrfeigt hatte und deswegen zu 1000 Euro Geldstrafe verurteilt wurde. Die Pikanterie dieses Falles lag darin, dass der Vergewaltiger noch acht Jahre nach der Tat nicht rechtskräftig verurteilt und auf freiem Fuß war, während die Mutter des Mädchens umgehend angeklagt und abgeurteilt wurde.

Wenn es in Deutschland einen Wert gibt, der nicht verhandelbar ist, dann ist es der „Rechtsstaat“. Nach den Unrechtsexzessen des Dritten Reiches ist das nicht nur verständlich, sondern auch richtig. Nur wird der Rechtsstaat in Deutschland mit einer Radikalität exekutiert, die ans Dogmatische grenzt und der Gerechtigkeit den Garaus macht. Die Sorge um das Procedere und das Wohlergehen der Täter kommt stets vor der Frage nach der Schwere der Tat und ihren Folgen.

Sogar Massenmörder und Diktatoren kommen in den Genuss einer „Unschuldsvermutung“, die sich in der Frage nach der „Rechtsstaatlichkeit“ der Verfahren artikuliert. Hatte Slobodan Milosevic einen „fairen Prozess“? Ist Saddam Hussein bei seiner Festnahme gedemütigt worden? Ja, hatten die Amerikaner überhaupt das Recht, das Oberhaupt eines souveränen Staates zu verhaften?

Der irakische Diktator war noch nicht angeklagt, da machte schon das Wort von der „Siegerjustiz“ die Runde. Als ob im Idealfall die Besiegten über die Sieger zu Gericht sitzen müssten. Und nun, da er zum Tode verurteilt wurde, melden sich wieder die Bedenkenträger zu Wort. Von Angela Merkel bis Amnesty International hoffen sie, dass die Todesstrafe nicht vollstreckt wird. Was hätten die Opfer von Saddam Hussein gegeben, wenn sich jemand ihrer so zärtlich angenommen hätte – eine moralische Instanz wie der Leipziger Pfarrer Christian Führer von der Nikolaikirche zum Beispiel, der schon die Verhaftung Saddams vor drei Jahren als „menschenrechtswidrig“ kritisiert hatte und der letzten Montag, als Kommentar zu Verurteilung Saddams, beim „Friedensgebet“ die Frage stellte: „Wer straft eigentlich Bush und Blair?“ Neben dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit hat sich in Deutschland nämlich auch das Prinzip der „Äquidistanz“ durchgesetzt. Und das besagt: „Saddam und bin Laden sind böse. Aber Bush und Blair sind es auch.“

Die Moderatorin der „kulturzeit“ auf 3sat fing ihre Sendung letzten Montag mit einer Anmoderation über das Saddam-Urteil an, um anschließend zu sagen: „Das Böse wächst nach. In ganz normalen amerikanischen Mittelstandsfamilien.“ Womit die Verbindung von Kentucky nach Kerbala aufgebaut war. Es folgte ein Beitrag über eine forensische Psychiaterin, die 80 Killer interviewt und ein Buch geschrieben hatte („Mein Leben unter Serienmördern“), in dem sie sagt: „Zum Serienmörder wird man geboren.“

Hätte Saddam diesen Bericht gesehen, hätte er seine Verteidigungsstrategie sicher geändert. „Ich kann nichts dafür, ich wurde so geboren! Fragt bei 3sat nach!“

Bald könnte es Mahnwachen für Saddam geben. Und während in der Hölle die Tore vernagelt werden, damit er nicht reinkommt, wird in der Leipziger Nikolaikirche schon für ihn gebetet.

Der Autor ist Reporter beim „Spiegel“.

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