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Trauernde haben Blumenkränze und ein Bild des getöteten Jonny K. zu dessen Trauerfeier hinterlegt.

© dapd

Die Gewalttat vom Alexanderplatz: Wenn Gefühl und Gesetz nicht zusammenpassen

Manchmal ist er verdammt schwer zu ertragen, dieser Rechtsstaat, wie der Fall vom Alexanderplatz zeigt. Der Staat erscheint weich, harmlos, inkonsequent, und das macht wütend. Doch bei aller Empörung dürfen wir nicht die Fundamente einreißen, auf denen die Gesellschaft steht.

Manchmal ist er verdammt schwer zu ertragen, dieser Rechtsstaat, wie der Fall vom Alexanderplatz zeigt. Ein junger Mann wird niedergeschlagen, von einer aggressiven Gruppe umringt und getreten, auch gegen den Kopf, brutal und immer wieder, bald darauf ist er tot. Die Polizei ermittelt die Täter, drei nimmt sie fest, drei andere können flüchten, offenbar in die Türkei. Doch noch bevor auch die vor dem Haftrichter stehen, werden die ersten schon wieder entlassen, einen sieht man mit Freundin durch den Park spazieren. Ein Reporter entdeckt einen der Gesuchten in Istanbul, doch die Behörden kommen nicht an ihn ran: Die deutschen dürfen nicht, die türkischen übersetzen erst noch das Rechtshilfeersuchen, wenn es denn kommt. Der Verdächtige ist bekannt, aggressiver Schläger, erfolgloser Sportboxer, einer, der mit seinen Taten prahlt. Er stand schon vor Gericht, Körperverletzung, Nötigung, Waffenbesitz, ist verurteilt worden, zu einem Arrest, zu einem Anti-Gewalt-Kurs, offensichtlich mit schlagendem Erfolg. Dem Reporter sagt er, wenn einer am Boden liegt, würde er den doch nie treten, das sei eine Frage der Ehre.

Es kommt also einiges zusammen in diesem Fall, der Staat erscheint weich, harmlos, inkonsequent, schwer zu verstehen, schwer zu ertragen. Und das macht wütend, auf die Justiz – und auf die Schläger mit ihrer dauerbeleidigten, eitlen „Ehre“. Wer das anders empfindet, hat wohl schon abgeschlossen mit allem – oder: ist Jurist. Ja, es liegen manchmal Welten zwischen dem Rechtsverständnis von Juristen und dem Gerechtigkeitsverständnis der Gesellschaft.

Aber wem am Rechtsstaat liegt und am inneren Frieden, der kann sich bemühen zu verstehen, was da vor sich geht, anstatt eine Stimmung weiter anzufeuern, die schon gefährlich heiß ist – zumal dann, wenn er den Rechtsstaat vertritt. So mag man zwar nachvollziehen, dass der Innensenator Verständnis zeigt für erregte Bürger und verärgerte Fahnder, aber kaum, dass er sagt: „Das will ich nicht verstehen.“ Es ist das Gefühl des Moments, dieses „Ich will nicht!“, eine Verführung, aber zu einem hohen Preis, den andere zahlen: Richter, die beschimpft werden, weil sie das anwenden, was Politiker als Gesetze beschlossen haben; Rechtsanwälte, die angefeindet werden wegen ihrer Mandanten; Parlamentarier und Publizisten, die das Verfahren verteidigen und deswegen bedroht werden; Berliner aus türkischen Familien, die ein Jahr nach der Enthüllung des Neonaziterrors und den großen Worten der Politik sich einer zunehmend rassistischen Stimmung ausgesetzt sehen, auf der Straße, in Kondolenzbüchern, bei Foren.

Empathie mit den Opfern und den erregten Menschen zu zeigen und zugleich den Weg und Wert von Recht und Gesetz zu vermitteln, ist keine Überforderung, schon gar nicht der Politik. Ein Reporter hat es nun mal leichter, in der Türkei einen Verdächtigen zu befragen als die deutsche Polizei, die dort nicht einfach einreiten kann. Untersuchungshaft ist an klare Voraussetzungen gebunden und als vorauseilende Strafe verboten. Die Staatsanwaltschaft kann gegen Haftverschonung Beschwerde einlegen, in diesem Fall ja auch mit Erfolg. Der Anteil und die Schwere der Schuld jedes einzelnen Täters, sein Motiv, seine Strafe wird im Gericht beim Prozess festgestellt, nicht zuvor auf dem Boulevard. Wir sollten aufpassen, dass wir nicht bei aller Empörung, allem Zorn die Fundamente einreißen, auf denen die Gesellschaft steht. Rechtssicherheit ist eines davon.

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