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Meinung: Die glänzenden Augen von Christian Wulff

Von Pascale Hugues, Le Point

Nach der Breitseite, die Christian Wulff kürzlich gegen Berlin abfeuerte, packten mich Zweifel: Ist meine Liebe zu dieser Stadt eine fehlgeleitete Marotte? Leide ich unter Realitätsverlust, wenn ich die unglaubliche Vitalität dieser Stadt preise, ihre Jugend, ihre Melancholie, die Energie, mit der sie seit 17 Jahren an der Verschmelzung ihrer beiden Hälften arbeitet? Bin ich die Einzige, die den Geist der Freiheit spürt, der hier weht?

Und der gute Herr Ministerpräsident von Niedersachsen – hat er recht, wenn er Berlin als träge, verwöhnte Lumpenprinzessin beschreibt, die mit gierig ausgestreckten Fingern die milden Gaben der steuerzahlenden Bundesländer einsammelt? Ist Berlin wirklich ein Antichrist, der den verpflichtenden Religionsunterricht aus seinen heruntergekommenen Schulen verbannt, in denen man an jeder Flurecke Gefahr läuft, dass einem die Kehle aufgeschnitten wird? Eine dauerhaft schlecht gelaunte Megäre, die potenzielle Investoren verprellt – oder „Leistungsträger“, wie es Herr Wulff formuliert? Unterdrückt Berlin seine Geschichte? Hat die Stadt zu ihren beiden Diktaturen nicht genug Erinnerungsarbeit geleistet, weil eine Partei furchteinflößender Bolschewiken mit Messern zwischen den Zähnen das Rote Rathaus erobert hat?

Ein paar Zahlen verschaffen mir Beruhigung. Ich bin nicht die Einzige, die das Berliner Exil gewählt hat. Die Franzosen – und es sind zum größten Teil junge – sind nach den Polen die am stärksten in Berlin repräsentierten EU-Bürger. Die Franzosen lieben Berlin. „Berlin ist nicht Deutschland“, sagen sie. Und – Herr Wulff möge mir diese schmerzliche Wahrheit verzeihen – das bedeutet ganz klar: Berlin ist nicht Hannover.

Lieber Herr Ministerpräsident: Mein „Guide Bleu“ verzeichnet für die Hauptstadt Ihres Bundeslandes einen einzigen winzigen Stern. Berlin dagegen hat ein extra Buch für sich. Dabei geht der „Guide Bleu“ noch einigermaßen höflich mit Hannover um: „Hannover wurde während des Zweiten Weltkriegs in Schutt und Asche gelegt, und anstatt sich auf seine reiche Vergangenheit zu besinnen, entschied sich die Stadt für einen Wiederaufbau im funktionellen, modernen Stil.“ Fragen Sie mal einen jungen Franzosen, der halbwegs normal veranlagt ist, ob er in so einer Stadt ein Wochenende verbringen möchte – er wird Ihnen einen Vogel zeigen! Und was sagt die Berlin-Ausgabe des „Guide Bleu“? „Berlin ist heute eine offene Stadt, eine Stadt im Wandel, auf der Suche nach einer neuen Identität. Die Geschichte ist hier eine fühlbare, täglich gelebte Wirklichkeit.“ Ein Wochenende in Berlin? Sofort!

Berlin-Bashing ist in diesem Land eine Art Volkssport. Welcher französische Lokalpotentat würde es wagen, ähnliche Beleidigungen über Paris auszuschütten? Die Deutschen haben ein zwiespältiges Verhältnis zu ihrer Hauptstadt. Sie träumen von einer Metropole, die Paris ähnelt oder New York, aber sie stehen Berlin misstrauisch gegenüber. Nehmen Sie die Opernfrage: Die Pariser Garnier-Oper mit bröckelnder Fassade, verdeckt von Baugerüsten und schmierigen Netzen – ein unvorstellbares Bild. Ist es nicht François Mitterrand höchstpersönlich, der an der Bastille eine brandneue Oper bauen lässt, die den Staat ein kleines Vermögen kostet?

Natürlich sind die deutschen Kanzler keine als Republikaner verkleideten Monarchen wie unsere französischen Präsidenten. Aber das Beispiel der Oper zeigt, wie stabil in Frankreich der Kulturkonsens ist. Und die Polemik um die Restaurierung der Staatsoper wird umso absurder, wenn man sieht, dass ein paar Schritte weiter von einer Kopie des Hohenzollern-Schlosses geträumt wird. Will man das Echte verfallen lassen, um das Falsche zu bauen?

Zu Weihnachten sollte Thilo Sarrazin das letzte bisschen Geld aus seinen Kassen kratzen und Christian Wulff den „Guide Bleu“ schenken, die Berlin-Ausgabe. Kostet im Angebot nur zwölfeinhalb Euro. 40 Spaziergänge werden dort vorgestellt, um „die erstaunliche Vielfalt und die dauerhaften Narben der Stadt zu entdecken“. Nach ein paar Kilometern Berlin-Spaziergang würde unser Niedersachse seinen Hochmut schlucken und wie wir alle, die wir aus der Ferne kommen, mit glänzenden Augen und überwältigtem Herzen nach Hause fahren. Vielleicht würden ihm dann sogar die Straßen von Hannover ein wenig fad vorkommen.

Übersetzt von Jens Mühling.

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