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Meinung: Die Lust an der Nachsicht

Das neue Stasi-Unterlagengesetz führt zu mehr Bürokratie Von Lutz Rathenow

Nun kam in letzter Minute doch ein verändertes Gesetz zur Akteneinsicht zustande. Die Horrorvorstellung einer ohne Gesetz erschwerten Akteneinsicht erschreckte alle so, dass man mit dem neuerlich durchgemischten Kompromiss leben will. Die schlimmsten Entgleisungen der ersten Fassung sind raus. Das sogenannte Vorhaltungsverbot einer Stasi-Mitarbeit wurde ersatzlos gestrichen: dass einem Mitarbeiter die Tatsache einer Stasi-Tätigkeit im Rechtsverkehr nicht mehr vorgehalten und nicht zu seinem Nachteil verwendet werden darf.

Das hätte nicht nur Kündigungsschutz für Ex-Stasi- Mitarbeiter bedeutet, auch ein neuer Wettlauf auf die Akten hätte eingesetzt, um sich bestätigen zu lassen, wirklich MfS-Mitarbeiter gewesen zu sein. Bei den Prüfmöglichkeiten für berufliche Eignung haben die Versöhnungsfundamentalisten gepunktet. Seit Monaten argumentieren sie an der Realität vorbei. Da wurde von Verjährung und Fristen geredet. Doch eine ehemalige IM-Tätigkeit war nicht strafbar, das nicht Verurteilte kann nicht verjähren. Vor allem dann nicht, wenn gar nicht bekannt wird, was vergeben werden soll – und ohne die kritische Reflexionsbereitschaft des Akteurs zu testen. Zu vielen Politikern scheinen die Akten einfach lästig zu sein, auch weil durch die Rosenholz-Dateien alles noch anstrengender geworden ist. Und es sich eben nicht nur um DDR-Unrecht handelt, sondern sie Dokumente einer Diktatur darstellen, die die Bundesrepublik und ihre Protagonisten für sich zu nutzen versuchte. Weder durch Freudenfeuer noch durch Beide-Augen-Zudrücken wird man sie los.

Auch DDR-Bürger, die sich von Berufs wegen viel mit DDR-Geschichte beschäftigten, stehen vor dem psychischen Problem einer zunehmenden Nachsichtigkeitslust, um ja kein Hardliner zu werden. Faktisch geht es weiter um moralische Verantwortung, sie sollte durch potenzielle Aktenauskunft erkennbar bleiben. Prüfungen für die berufliche Eignung gehören dazu. Sie hätten in den letzten Jahren wenig Resultate erbracht? Vielleicht hielt sie den einen oder anderen ab, sich um bestimmte Posten zu bewerben.

Und das, bevor alle Stasi-Akten erschlossen worden sind. Das wird enden wie bei dem Antidiskriminierungsgesetz, das Gerechtigkeit durch Überregulierung durchsetzen will. In der Praxis werden etwa Arbeitgeber bei Einstellungen verlogener argumentieren, um jeden Vorwurf möglicher Diskriminierung entgegenzuwirken. Da in vielen Bereichen nicht mehr überprüft werden darf, gilt das Verdachtsprinzip. In einigen Berufen geht es um Tätigkeitskompetenzen zum Beispiel durch Prüfen der Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber beruflichen Missbrauch (Anwälte, Trainer, Ärzte, Lehrer oder Journalisten).

Es wäre nicht schlecht, man könnte etwa in der Wirtschaft die Frage stellen, inwieweit Verhandlungen über die Energiezukunft Deutschlands mit Russland auch von Menschen geführt werden, die zu DDR-Zeiten geheimdienstliche Kontakte Richtung Osten hatten. Daran bestand bis jetzt wenig Interesse? Verzichten wir auf die Verfolgung von Diebstahl, weil nicht alle Diebe erwischt werden? Grundsätzlich ist das Gesetz ohnehin zu defensiv angelegt. Die öffentliche Klärung geschichtlicher Verantwortung sollte über MfS-Mitarbeiter hinaus abgesichert werden, das Benennen moralischer Schuld und Persönlichkeitsrechte kollidieren hier.

So darf der Thüringer Autor Roman Grafe sein Buch über die Mauerschützenprozesse im Siedler Verlag nicht mehr ausliefern, weil ein Politoffizier der Berliner Grenztruppen seinen Namen nicht genannt sehen möchte. Als Personalrat bei der Polizei heute empfindet er die Gedanken des Autors zu ihm und seiner Aufgabe als Politoffizier zu jener Zeit, in dem 1989 Chris Gueffroy erschossen wurde, als ruf- und karriereschädigend. Er kam damit vor einem Gericht durch und das Buch ist verschwunden. Erst einmal.

Der Autor war DDR-Bürgerrechtler und ist Schriftsteller.

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