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Meinung: Die Mauer: Die Mauer und die Moral

Nach dem Kirchenvater des Säkularismus, Max Weber, pflegen die Deutschen sich zu richten, wenn es um das Verhältnis von Politik und Moral geht. Für den Alltag gilt die so genannte Verantwortungsethik, die überall gut zuredet, Grundsätze fallen zu lassen.

Nach dem Kirchenvater des Säkularismus, Max Weber, pflegen die Deutschen sich zu richten, wenn es um das Verhältnis von Politik und Moral geht. Für den Alltag gilt die so genannte Verantwortungsethik, die überall gut zuredet, Grundsätze fallen zu lassen. Menschenrechte wirtschaftlichen Interessen nachzuordnen, Kompromisse zu schließen, die man zuvor nachdrücklich ausdauernd und öffentlich verworfen hat.

Für festliche Anlässe, historische Daten und Preisverleihungen dagegen gibt es das Sonntagsgewand der Gesinnungsethik. Da wird viel von Wertegemeinschaften und anderen schönen Dingen gesprochen, so gehoben und stimmungsvoll, dass sogar religiöse Beteuerungen als angebracht gelten.

Nur selten ergibt sich die Gelegenheit, beides, Gesinnung und Verantwortung, so glücklich zu verbinden, wie im Berliner Wahlkampf, in dem der Berliner Mauerbau so effektiv eingesetzt werden kann wie in vergangenen DDR-Zeiten der Frieden. "Sind Sie für den Frieden, Herr Pfarrer?", so pflegten mich die CDU-Wahlschlepper siegesgewiss zu fragen, wenn sie eine Nichtteilnahme an Volkskammerwahlen als Kriegsbefürwortung entlarven wollten.

So braucht man also jetzt in Berlin nur zu fragen: "Bist du für Mauerbauer?" - und schon sind alle politischen Fronten bis zum Wahlverhalten geklärt. Über die Probleme der Stadt, des Landes Berlin, die Probleme einer Bundeshauptstadt braucht dann gar nicht erst gesprochen zu werden.

Das gibt mir Anlass, an die merkwürdige Volkskammersitzung vom 12. 8. 1961 zu erinnern, in der über Menschenhandel, Kopfjägerei, die Militaristen in Westdeutschland und deren Kriegshysterie gesprochen und seltsamerweise der sofortige Abschluss eines Friedensvertrages mit diesen verwerflichen Menschen gefordert wurde. Auch war in fast allen Redebeiträgen von bestimmten Maßnahmen der DDR-Regierung die Rede, die die Werktätigen forderten und die das Parlament unterstütze. "Wir unterstützen unsere Regierung bei jedem Schritt, der notwendig ist im Kampf gegen Menschenhandel, zur Erhaltung des Friedens und zum Sieg des Sozialismus in der DDR", erklärt der Abgeordnete Benno Leutzsch namens der FDGB-Fraktion.

Auch Robert Havemann, der drei Jahre später durch seine spektakulären Berliner Vorlesungen den höchsten Unwillen der SED erregen wird, ergreift in der Debatte das Wort: "Man muss jetzt konsequent handeln und die ungeheure Gefahr, die von der Bundesrepublik ausgeht, allen Völkern der Welt klarmachen. Man muss hier bei uns die notwendigen Vorkehrungen treffen, um uns vor solchen Gefahren zu schützen."

Es erübrigt sich, die Stellungnahmen der anderen Fraktionen zu zitieren, ehe der Ostberliner Oberbürgermeister Friedrich Ebert (SED) die Debatte schloss und, wie das "Neue Deutschland" schrieb, "die Abgeordneten sich von ihren Plätzen erhoben und einmütig ihre Zustimmung gaben."

Ein hoch seltsame Abstimmung! Das Seltsamste aber ist, dass völlig im Unklaren bleibt, was das eigentlich für Maßnahmen sind, denen da einmütig zugestimmt wurde. Wusste man, dass es sich um den Mauerbau handelte, der da beschlossen worden war?

Mindestens Friedrich Ebert muss es gewusst haben. Denn er beruft sich in seiner Ansprache auf die Beratungen im Warschauer Pakt, bei denen am 5. 8. 1961 die DDR zum Mauerbau ermächtigt worden war. Spätestens am nächsten Morgen wussten alle Volkskammerabgeordneten, wofür sie gestimmt hatten: dafür, dass eine ganze Bevölkerung zu Geiseln und Leibeigenen eines unhaltbar gewordenen, aber durch eine Supermacht ausgehaltenen Regimes gemacht worden war. Wie ist so etwas möglich? Wer kann verständige Menschen zwingen, stundenlang voreinander zu heucheln, man wisse nicht, wovon in allen den pathetisch vorgebrachten Unwahrheiten die Rede ist, die offen zutage liegenden Unwahrheiten über die Kriegshysterie des Westens, mit dem man doch gerade Frieden schließen wollte; die ebenso offen zutage liegenden Unwahrheiten über die Schutzbedürftigkeit der DDR-Bürger, die sich dem ihr von der SED angedeihenden Schutz gerade durch Massenflucht zu entziehen begannen.

Die Antwort ist einfach: Die Abgeordneten selbst zwangen sich zum Mitheucheln, weil allen daran lag, sich gegenseitig darüber hinwegzutäuschen, dass diese Gespensterdebatte eines Gespensterparlamentes in einer Sackgasse stattfand, an deren toten Ende nur die Mauer stehen konnte.

Aber ich scheue mich nicht, es auszusprechen: Auch die Politik der Westalliierten, die Politik des Friedens im Gleichgewicht des Schreckens, wurde am 13. 8. 1961 als Sackgasse offenbar. Eine weit komfortablere und weiträumigere Sackgasse als die minen-, stacheldraht- und schießbefehlbewehrten vier Wände der DDR! Aber dennoch eine Sackgasse, in der man eine Panzerabteilung nach Berlin rollen lassen, aber im Übrigen keinen Finger mehr zugunsten der eingesperrten DDR-Bevölkerung krümmen konnte, nicht einmal für den verblutenden Peter Fechter - im nur zu krassen Unterschied gegenüber den Luftbrückenmonaten von 1948/49. Wie sehr konnte ich den ohnmächtigen Zorn von Willy Brandt damals nachfühlen, als ich im Radio die müden Erklärungen Adenauers hörte, er wolle sich jetzt etwas öfter als vorher um Berlin kümmern.

Was also ist die Moral des 13. 8. 1961 für die Wahl am 21. Oktober? Ob die PDS endlich im alle Mauern, vergangene und etwaige künftige, verwerfenden antitotalitären Konsens der Demokraten angekommen ist, halte ich für eine Frage, die zu allererst die PDS beantworten muss. Die Wähler werden entscheiden, ob die Antworten sie überzeugt haben.

Für viel wichtiger halte ich, alle zur Wahl Antretenden zu fragen: Was versteht ihr unter einer Bundeshauptstadt Berlin, die einmal die Reichshauptstadt einer militaristischen Monarchie war, dann einer vom deutschen Bürgertum im Stich gelassenen Demokratie und darum zum Regierungszentrum des braunen Totalitarismus werden konnte? Was soll im Zentrum dieser Bundeshauptstadt stehen, das Bekenntnis zur friedlichen Revolution, die zwischen Alexanderplatz und Lustgarten stattgefunden hat und Demokratie nicht durch Zwang, sondern durch freie Entscheidung stiftete - oder die Kommemoration an eine Dynastie, der Deutschland den Marsch in die Weltkriege verdankt?

Wer stellt klar, was der Mauerbau war, völkerrechts- und menschenrechtswidrige Staatskriminalität, wie die Politbüro- oder Mauerschützenprozesse zu Recht voraussetzen oder eine normale Grenzsicherungsmaßnahme, wie die Nichtrückgabe der Mauergrundstücke behauptet?

Wer stellt klar, dass die vom Stasi-Unterlagengesetz in Auftrag gegebene und demokratisch normierte politische Aufarbeitung des SED-Unrechtes ohne Ansehen der Person und ohne politische Rücksichtnahmen so zu Ende geführt wird, dass in unserem Land und in Europa nicht nur keine Mauern mehr gebaut werden können, sondern alle Bereiche politischen Handelns in jener Transparenz stattfinden, die allein mit demokratischen Prinzipien vereinbar ist?

Der Autor ist Theologe, war in der DDR als Bürgerrechtler aktiv, in den 90ern für die Bündnisgrünen im Bundestag und im Europaparlament.

Wolfgang Ullmann

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