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Meinung: Die rechte Gewalt und der Osten?: Folge 1: Wer bleibt, wer geht?

Vielleicht hat Sebnitz auch sein Gutes. Kaum dass die schändliche Vorverurteilung einer ganzen Kleinstadt wie ein Kartenhaus in sich zusammengebrochen war, schlug das Pendel in die entgegengesetzte Richtung aus, bis hin zur Leugnung des Problems.

Vielleicht hat Sebnitz auch sein Gutes. Kaum dass die schändliche Vorverurteilung einer ganzen Kleinstadt wie ein Kartenhaus in sich zusammengebrochen war, schlug das Pendel in die entgegengesetzte Richtung aus, bis hin zur Leugnung des Problems. Hysteriker und Gesundbeter arbeiten sich aneinander ab und schaffen dadurch ungewollt Raum zur geistigen Besinnung; Zeit und Chance vielleicht, Nüchternheit walten und Tatsachen sprechen zu lassen.

Unter denen, die das Problem sehen, drehte und dreht sich der Streit um die Lokalisierung und Gewichtung der Ursachen. Geht die vor allem unter jüngeren Ostdeutschen beobachtbare fremdenfeindliche Gewalt hauptsächlich auf Nachwirkungen der DDR oder primär auf Auswirkungen der Nachwendezeit zurück?

Ich entscheide mich in diesem Prioritätenstreit für Letzteres. Dafür sprechen einige Gründe.

Erstens: Die ostdeutschen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die 16- bis 24-, 25-Jährigen, die durch aggressiven Fremdenhass und Antisemitismus auffallen, waren, als die DDR endete, entweder noch Kinder oder hatten gerade die Jugendweihe absolviert. Sie haben die prägende Zeit ihres Lebens unter den gewandelten Verhältnissen zugebracht. So weit ihre eigene, bewusste Erfahrung ins Spiel kommt, liegt der Schwerpunkt eindeutig nach 1990.

Zweitens: Nachwirkungen eines politischen Systems mit ausgeprägter Homogenität im sozialen und oftmals rigider Uniformität im kulturellen Sinn sind nicht von der Hand zu weisen. Aber damit ist nicht gesagt, dass diese Vorgaben gesellschaftlich gebilligt und persönlich verinnerlicht wurden - sie könnten umgekehrt gerade den Wunsch nach und die Lust auf Vielfalt, Eigensinn und schöpferisches Chaos genährt haben. Zudem ereilte der viel beschworene Schock der "offenen Gesellschaft" die Ostdeutschen nicht in multikultureller, sondern in existenzieller Gestalt in seiner ganzen Härte. Was die Heranwachsenden oder soeben erwachsen Gewordenen zutiefst schockierte, war nicht die neue Buntheit des Lebens, sondern, im Gegenteil, seine soziale Verödung, waren Deindustrialisierung, Kahlschlag kultureller Institutionen, Arbeitsplatzverlust der Eltern und die Sorge um die eigene berufliche Zukunft. Sie zogen daraus höchst verständliche, obschon demographisch verheerende Schlüsse.

Drittens: Wer sich heute im Osten Deutschlands umtut, die wenigen Metropolen meidet und stattdessen die kleineren und mittleren Städte bereist, bemerkt sofort zweierlei: das Brachliegen ganzer Stadtquartiere und die Überalterung der Bevölkerung; die älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind dramatisch unterrepräsentiert. Die Statistik gibt nähere Auskunft. Das Statistische Bundesamt weist von 1989 bis 1999 ein negatives Wanderungssaldo zwischen Ost und West von mehr als 1,1 Millionen Menschen aus. Die tendenziell abflachende Abwanderungskurve kann schon deshalb nicht beruhigen, weil 1998 und 1999 - parallel zur sich erneut öffnenden Wachstumsschere - das Negativsaldo wieder stieg. In regionaler Hinsicht führen, über den gesamten Zeitraum betrachtet, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt die Negativliste an. Schlichtweg alarmieren muss der Tatbestand, dass über all die Jahre ausgerechnet Jüngere, bis 25-jährige, abwandern. Höchst ungünstig entwickelt sich auch der Geschlechterproporz. In letzter Zeit sind es vor allem die jungen Frauen, die ihr Glück woanders suchen.

Viertens: Die DDR war vom ersten Tage ihrer Existenz an eine Auswanderungsgesellschaft; nach der Wende setzte und setzt Ostdeutschland diese auszehrende Entwicklung fort, gebremst zwar seit Mitte der Neunziger Jahre, aber nicht aufgehalten und schon gar nicht (was dringend erforderlich wäre) ins Gegenteil gewendet. Unter den jungen Leuten gehen die, die mobiler, risikofreudiger sind; die einen guten Ausbildungs- oder Arbeitsplatz der heimatlichen Bindung vorziehen; die es an die Universitäten und Hochschulen im Osten wie im Westen zieht; die die Chance nutzen für längere Zeit im Ausland zu leben, zu studieren oder zu arbeiten. Zurück bleiben die vom Elternhaus oder vom Schicksal weniger Begünstigten, die Schulabgänger mit den schlechteren Zertifikaten, die weder an weiterführende Bildung noch an glänzende Karrieren denken können und daher mit dem armseligen Angebot des lokalen Ausbildungs- und Arbeitsmarktes vorlieb nehmen müssen; die weniger Mobilen, die aus ihrer Not, an den unmittelbaren Lebensumkreis gefesselt zu bleiben, die Tugend einer ebenso zweifelhaften wie verzweifelten Schollenmentalität machen.

Es gibt also negative eine soziale und edukative Selektion. Daraus folgt Selbstbestätigung untereinander in der Sinn- und Perspektivlosigkeit der eigenen Existenz, und zwar vor einem sozialen Hintergrund, der oftmals den schlimmsten Prognosen Recht gibt. Hinzu kommen fehlende soziale Vielfalt der Bildungs- und Berufswege, kulturelle Kontrastschwäche und unausgewogenes, den alten männlichen Komment wiederbelebendes Geschlechterverhältnis. Kann angesichts all dessen der wiederkäuende Verweis auf die "diktatorische DDR" bei der Problemlösung tatsächlich weiterhelfen? Ist der "demokratische Westen", der ununterbrochen nach der ostdeutschen Zivilgesellschaft ruft und zugleich vielen Ostdeutschen vorenthält, was sie voraussetzt, Arbeit und Eigentum nämlich, nicht längst in der Pflicht?

Wolfgang Engler

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