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Meinung: Die selbstverständliche Kontinuität

Ein Beitrag zur Debatte um deutsche Schuld und das Holocaust–Mahnmal

Von Egon Bahr

Wie ist das mit der deutschen Kontinuität? Deutschland ist nicht untergegangen, als das Reich 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation seine Souveränität mit der totalen Niederlage an die Sieger verlor. Die Bundesrepublik setzte sie als Kernstaat fort. Die DDR sagte sich von ihr los, ohne sie loswerden zu können. Im Grundlagenvertrag bekannten sich beide Staaten zur Nation, zu der sie verschiedene Auffassungen hatten. In der Einheit erhielt die Nation ihren souveränen Staat zurück. Und mit dem die Kontinuität.

Wer das Mahnmal für "eine Kundgebung deutscher Kontinuität" hält ( Henryk M. Broder, Tagesspiegel 15.11.2003 ) und es ablehnt, weil eine Firma daran beteiligt ist, die maßgeblich am Judenmord beteiligt war, kommt zu einer peinlichen Konsequenz. Er lehnt das heutige Deutschland ab, weil es die Wirklichkeit und nicht nur eine Kundgebung deutscher Kontinuität ist. Der denkt jedenfalls, auch ohne es so zu sagen oder zu schreiben: Das heutige Deutschland ist durch das frühere Deutschland kontaminiert. Das Gift des Reiches konnte nicht untergehen. Weder eine Firma und schon gar nicht der Staat kann es loswerden.

Wenn das so wäre, hätte das fatale Folgen. Das befreiende Wort des ersten Bundespräsidenten, der die Kollektivschuld durch die kollektive Scham ersetzt hat, wäre falsch gewesen. Die ganze quälende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wäre vergeblich geblieben. Selbst die Sieger hätten einen schrecklichen Fehler begangen, Deutschland in die Freiheit seiner Selbstbestimmung zu entlassen; sie hätten das Stigma seiner untilgbaren Kontinuität übersehen, dass es untauglich machen würde, ein normaler Staat in Europa zu werden. Sogar wenn Richard Schröder ( Tagesspiegel vom 16.11.2003 ) die Schuld der Nachgeborenen ablehnt, aber den Schulden der Vergangenheit gleichsam die Qualität einer Hypothek zuerkennt, stellt sich die Frage, wie lange diese Hypothek läuft, ob sie überhaupt abzutragen ist.

Wie ist die Wirklichkeit? Lufthansa, Mercedes und Krupp werben mit alten zeitweilig befleckten Namen. Berlin ist wieder Hauptstadt. Das Außenministerium legt Wert auf die Tradition der Bezeichnung "Auswärtiges Amt" und die Bundesregierung steht in der Kontinuität des Reiches, das in der Spanne von nur 12 Jahren ungeheuerliche Verbrechen begangen hat. Natürlich ist zu verstehen und zu respektieren, wenn es noch immer Menschen gibt, die es ablehnen, wieder deutschen Boden zu betreten. Aber sie maßen sich nicht an, deutsche Gegenwart und Zukunft bestimmen zu wollen.

In Wirklichkeit wissen alle, dass neue Bundeskanzler, wenn sie Kontinuität versprechen, keine Sekunde daran denken, die Politik ihres Vorgängers unverändert in Punkt und Komma fortzusetzen. Das wäre auch verrückt, wenn die Zeiten sich ändern. Mit anderen Worten: Wir haben uns richtigerweise angewöhnt, die heute notwendigen Entscheidungen nicht mit der Vergangenheit der 1000 Jahre zu begründen. Das deutsche Engagement für ein selbstbestimmtes Europa leitet sich nicht aus dem ab, was das Dritte Reich Europa angetan hat. Für das großartige und dennoch unzureichende Werk der Wiedergutmachung gibt es eine zeitliche Begrenzung. Unbegrenzt bleibt die volle Verfolgung individueller Verbrechen. Geschichtliche Schuld verjährt. Das Volk amnestiert sich selbst, um zu gesunden.

Das erlaubt nicht, die Vergangenheit zu vergessen. Vergangenheit ist nicht korrigierbar. Sie kann uns lehren, bei den jeweiligen Entscheidungen der Gegenwart die Konsequenzen für die Zukunft zu bedenken. Aber wehren sollten wir uns gegen alle Verführer, die uns nahe legen oder gar moralisch dazu verpflichten wollen, die Zukunft durch unsere Vergangenheit zu bestimmen. Es wäre gleichbedeutend mit einer zeitlich unbegrenzten permanenten Verurteilung für untilgbare deutsche Schuld. Das wäre unerträglich; es würde Deutschland die Normalität absprechen und die Qualität wie ein normaler Staat handeln zu können oder behandelt zu werden.

Deutschland hat, gerade wenn es seine Vergangenheit nicht vergisst, die Pflicht, endlich mit sich selbst ins Reine zu kommen, sein Gleichgewicht zu gewinnen und wie jeder andere Staat zur Gesundung unseres Kontinents beizutragen. Lage und Gewicht des Landes sind wichtig genug, dass unsere Nachbarn das von uns erwarten können. Gerade weil wir zu machtlos geworden sind, um Verbrechen der Vergangenheit wiederholen zu können, dürfen wir wie jeder andere Staat auch unsere Interessen vertreten und unsere Meinung sagen. Gegenüber Israel ist das eine Frage von Stil, Takt und Scham, nicht von Recht. Das gilt auch gegenüber unseren jüdischen Landsleuten, mit denen wir Antisemitismus ablehnen und fundamentalen Antisemitismus nicht hilfreich finden.

Deutschland hat eine neue Kontinuität gewonnen. Seit mehr als 50 Jahren. Wir sollten nicht zulassen, dass sie an der Kontinuität der 12 Jahre vorher gemessen wird.

Unser Autor, Bundesminister a.D., gilt als einer der Architekten der Ost- und Deutschlandpolitik Willy Brandts .

Egon Bahr

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