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Meinung: Die Überraschungsfalle

Sind wir entsetzt oder auch überrascht? Hatte wirklich keiner ahnen können, was am 11.

Sind wir entsetzt oder auch überrascht? Hatte wirklich keiner ahnen können, was am 11. September geschah? Im Frühjahr diesen Jahres fand wenige Straßenzüge vom World Trade Center entfernt ein Prozess statt. Angeklagt waren vier Mitglieder des Terror-Netzwerkes "Al Qaida", von denen mittlerweile feststeht, dass sie 1998 in die Anschläge auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania verwickelt waren. Während der Gerichtsverhandlung kam heraus, dass der Kopf von "Al Qaida", Osama bin Laden, den Einsatz von Massenvernichtungswaffen befürwortet und bereits versucht hat, sich atomwaffenfähiges Material zu besorgen. Abgesehen von der "New York Times" schien sich kaum jemand für diese Informationen zu interessieren. In Amerika beherrschte die neue Bush-Administration die Schlagzeilen, in Europa BSE.

Sind wir bestürzt oder auch überrascht? Von Marokko bis Indonesien gehen immer mehr Moslems auf die Straße, um antiisraelische und antiamerikanische Parolen zu skandieren. Was aber haben Marokkaner und Indonesier mit dem Nahostproblem oder den Milizen der Taliban zu tun? Im Prinzip nichts. Die Bilder, die ihren Protest verursachen, verdanken sie allein der medialen Globalisierung. Eine Milliarde Moslems sind live dabei, wenn ein Steine schmeißendes Kind erschossen wird.

Sind wir schockiert oder auch überrascht? Als es gegen die Sowjets ging, wurden die afghanischen Rebellen von den Amerikanern hochgerüstet. Als die Schlacht geschlagen war, überließ man das Land seinem Schicksal. Dass die Mischung aus mittelalterlicher Gesellschaft, fanatischer Ideologie und westlicher Militärtechnolgie nicht gerade stabil sein würde, war klar. Als hätte es noch eines Beweises ihrer Skrupellosigkeit bedurft, sprengten die Taliban unlängst die historischen Buddha-Statuen in die Luft.

Erst wenn die Katastrophe passiert ist, ergeben die Zeichen an der Wand einen Sinn. Selbstverständlich gibt es zum militärischen Einsatz der Amerikaner keine Alternative. Die Taliban-Miliz muss entmachtet, Osama bin Laden unschädlich gemacht, sein Netzwerk zerschlagen werden. Lässt sich diese Notwendigkeit ernsthaft bestreiten? Dass man nicht Bomben schmeißen und gleichzeitig mit Konvois die Flüchtlinge versorgen kann, ist zwar traurig, aber wahr. Wer das Schicksal der von Kälte und Hunger bedrohten Menschen lindern will, muss den Kampf gegen den Terrorismus schnell gewinnen.

Doch der Krieg in Afghanistan ist nur ein Teil - vielleicht sogar der unwichtigste Teil - der nötigen Maßnahmen. Denn die Menge der Szenarien, die durch Terrorhand Wirklichkeit werden können, deuten sich gerade erst an. In Washington hat man bereits bei Drehbuchautoren aus Hollywood um Rat gefragt, auf welche Bedrohungen das Land noch gefasst sein muss. Und ob es nun einheimische oder ausländische Terroristen waren: Das Versenden von Milzbrand-Erregern zeigt, wie grenzenlos gefährdet die offene Gesellschaft ist.

Gegen ihre Feinde setzt sie sich nur dann durch, wenn der 11. September zu einer Veränderung unseres Alarm-Systems führt. Der globale Terrorismus lässt sich nur global bekämpfen. Sicherheitslücken in Deutschland, soziale Unruhen in Ägypten oder unkontrollierbare Finanzströme in einer abgelegenen Zwergenrepublik sind gleich gefährlich. Der Blick über den Tellerrand ist überlebenswichtig geworden. Ins Lot gebracht werden muss auch die Hierarchie unserer Wahrnehmungen. Gewinnen werden die Terroristen, wenn der letzte Reporter vom Hindukusch abzieht, aus dem nächsten Lebensmittelskandal in Wuppertal eine ARD-Sondersendung gemacht wird und wenn die Frage, ob die Reform des Gesundheitswesens nicht erneut reformiert werden sollte, wieder ausgiebiger diskutiert wird als das Problem der Gesundheitsversorgung im Falle eines biologischen Großangriffs.

Mehr noch als wegen ihrer Offenheit sind unsere Gesellschaften wegen ihrer Pluralität verwundbar. Unsere Sehnsucht nach Ablenkung und Zerstreuung ist stark. Wie schwer es ist, sich lange auf ein Thema zu konzentrieren, hat sich im Kalten Krieg gezeigt. "Damit konnte keiner rechnen", hieß es, als der Kommunismus zusammenfiel. Jetzt wissen wir, dass wir auch mit dem größten Übel rechnen müssen, jederzeit.

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