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Meinung: Die Wahl verweigern – auch eine Wahl

Wir betrachten die Dinge mit jungen und alten Augen

Lieber Hellmuth Karasek, mir macht dieser Sonntag ein schlechtes Gewissen. Ich bin nämlich umgezogen, dadurch ist meine Benachrichtigung für die Europawahl verloren gegangen, und eigentlich war ich ganz froh darüber. Warum ist mir Europa so egal? Vielleicht weil die große Gruppentherapie der Staaten, die sich zuvor bekriegt haben, gelungen ist, und jetzt nur noch Nachrichten über die zunehmenden Hürden und Hindernisse ankommen? Vielleicht ist es aber auch nur ein Medienphänomen, dass plötzlich alle fragen: Brauchen wir Europa überhaupt? Sind kleine Staaten nicht viel erfolgreicher? Hey, seht euch nur die Schweiz an! Vielleicht hat meine Europamüdigkeit aber auch damit zu tun, dass ich noch nie richtig europawach war. Weil eine Graswurzel-Demokratie wie Europa eher zum Ausruhen als zum Umgraben einlädt? Ach, keine Ahnung. Vielleicht muss ich einfach nach Amerika fliegen. Wenn ich da sage: I am from Germany, dann heißt es ganz oft: Ah, yeah, ich war auch schon mal in Europa. Und gehen Sie wählen?

Liebe Kerstin Kohlenberg, eigentlich möchte ich nicht schulterklopfend vom hohen, aber klapprigen Ross meines Alters sagen: Sie brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben, dass Sie nicht Europa wählen. Ich sage es aber trotzdem, denn auch ich werde mir die Wahl schenken. Aber aus anderen Gründen, Europa ist mir nämlich nicht egal. Ich denke, dass bisher durch die Europa-Wahlen meist nur abgehalfterte Bundespolitiker zu Pfründen kommen (Altersversorgung, ich will keine Namen nennen, auch nicht Frau Behr), und da muss ich nicht mitmachen. Was Sache ist, erfahre ich auch durch Emnid-Umfragen. In Europa entscheidet, bis jetzt, nicht das EU-Parlament. Was ich also in Europa als Bürger will, kann ich durch Bundestagswahlen besser bewirken – solange das EU-Parlament wenig zu sagen hat. Und außerdem habe ich mit zunehmendem Alter gelernt: Wählen heißt auch, Wahlen verweigern. Auch das schreit nach Brüssel und zum Himmel. Trotzdem bin ich heilfroh, dass es Europa gibt. Das alte und vor allem das neue! Ihr Hellmuth Karasek

Ihre Kerstin Kohlenberg

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