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Meinung: Die widersprüchlichen USA

Zwischen Religion und Aufklärung, zwischen Tea Party und Occupy Wall Street: Warum die Amerikaner so sind, wie sie sind

Die führende Wirtschafts- und Militärmacht der Welt gibt selbst denen, die sie noch immer bewundern, zur Zeit eher Anlass zur Verwunderung. Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Staatsverschuldung, Arbeitslosigkeit – alles das hat Ursachen, die von Fachleuten aufgezeigt werden. Doch was so gut wie nie erklärt wird, ist das eigenartige Verhalten der Amerikaner, wie es zum Beispiel in der Tea-Party-Bewegung zum Ausdruck kommt. Wie ist es möglich, dass eine Nation, deren Verfassung vom Geist der Aufklärung geprägt ist und die Jahr für Jahr Nobelpreisträger hervorbringt, innenpolitisch so wenig aufgeklärte Vernunft an den Tag legt? Wenn die Anhänger der Tea Party, die überwiegend aus der gut ausgebildeten Mittelschicht stammen, den eigenen Staat zu entmachten versuchen, oder wenn die Evangelikalen, die gegen Darwins Evolutionslehre zu Felde ziehen, schon fast die Hälfte der Bevölkerung hinter sich haben, ist es schwer, an ein aufgeklärtes Amerika zu glauben.

Die Aufklärung ist aber nur eine von zwei Quellen, aus denen die amerikanische Mentalität bis heute gespeist wird; die andere, ältere ist der Puritanismus. Diese beiden gleich starken Formkräfte sind die Pole, zwischen denen das politische Leben der Nation wie ein Pendel hin und her schwingt. Immer wieder gab es religiöse Erweckungsbewegungen, denen eine Rückkehr zu den Prinzipien der Aufklärung folgte. Als der „wiedergeborene“ Christ George W. Bush, der mit religiösem Eifer den Kampf gegen die „Achse des Bösen“ aufnahm, sein Amt an Obama abgab, schien wieder ein solcher Rückschwung stattzufinden. Und in der Tat sprach aus allem, was Obama im Wahlkampf verkündete, aufgeklärtes Denken. Doch schon im ersten Regierungsjahr drohte er mit einem Kernstück seiner Politik, der Gesundheitsreform, zu scheitern. Warum hat gerade diese Reform in breiten Schichten des Volkes einen so hasserfüllten Widerstand hervorgerufen? Weshalb sehen dieselben Amerikaner, die die staatliche Krankenversicherung für alle Bürger über 65, genannt Medicare, als eine Segnung empfinden, in einer ähnlichen Versicherung für die 45 Millionen bis dahin nicht Versicherten das Gespenst des Sozialismus? Das zu verstehen ist nicht schwer, wenn man die religiöse Überzeugung kennt, die die ersten Siedler nach Amerika brachten und die seitdem den Kern des amerikanischen Wertesystems bestimmt. Die Puritaner, die Europa verließen, um in Amerika eine neue Gesellschaft zu begründen, waren gemäß der calvinistischen Prädestinationslehre einerseits von der Hoffnung beseelt, zu den von Gott Erwählten zu gehören, während sie andererseits in der Ungewissheit lebten, ob dies auch wirklich der Fall sei; denn sie selber konnten nach dieser Lehre nichts zu ihrer Erwählung beitragen. So bildete sich bei ihnen früh die Überzeugung aus, dass irdischer Erfolg ein göttliches Zeichen für Erwähltheit sei; denn weshalb sollte Gott Erfolg auf Menschen verschwenden, die er für die Hölle bestimmt hatte?

Diese Überzeugung war der Treibsatz, der den Puritanismus zum Motor der kapitalistischen Marktwirtschaft werden ließ, deren Wettbewerbscharakter nirgendwo so extrem ausgeprägt ist wie in den USA. Wo irdischer Erfolg als Beweis der Erwähltheit gilt, beschränkt sich der Wettbewerb nicht auf den Gelderwerb, sondern erstreckt sich auf alle Lebensbereiche und wird von frühester Kindheit an geübt, vor allem im Sport, aber auch im Streben nach Popularität und gesellschaftlicher Achtung. Ein so universaler, das ganze Leben bestimmender Wettbewerb setzt aber voraus, dass keine menschliche Instanz und schon gar nicht der Staat in ihn eingreift und damit unfaire Bedingungen schafft. Der Staat hat nur darüber zu wachen, dass für alle die gleichen Wettbewerbsregeln gelten.

Macht man sich diese historische Prägung klar, ist es nicht schwer, das Verhalten in Sachen Gesundheitsreform zu verstehen. Wenn der Staat mit Medicare allen Bürgern über 65 den gleichen Versicherungsschutz gibt, greift er nicht in den Wettbewerb ein, da die Ruheständler nicht mehr daran teilnehmen. Das Gleiche gilt für Kinder, die noch nicht in den Wettbewerb eingetreten sind. Auch sie werden vom Staat gleich behandelt, indem sie die gleiche kostenlose Schulbildung und sogar den Transport zur Schule per Bus erhalten. Dort aber, wo Erwachsene sich im Wettbewerb befinden, darf sich der Staat nicht mehr einmischen, sonst wäre irdischer Erfolg Ergebnis staatlicher Fürsorge und nicht mehr eigene Leistung und damit ein Zeichen der Erwähltheit durch Gott.

Wer diese Argumentation liest, wird denken: wie soll eine religiöse Überzeugung von vor vierhundert Jahren heute noch eine Gesellschaft bestimmen, deren Mehrheit inzwischen aus katholischen, lutherischen, orthodoxen, islamischen und anderen nicht-calvinistisch geprägten Einwanderern besteht? Tatsächlich ist der alte Calvinismus weitgehend verschwunden, doch sein individualistisches Wettbewerbsdenken ist längst zu einer kollektiv verinnerlichten Wertnorm geworden, die jeder Amerikaner mit der Muttermilch aufnimmt.

Das Besondere am Puritanismus lag darin, dass er wegen des nagenden Zweifels an der eigenen Erwähltheit offen blieb für aufgeklärte Rationalität. Deshalb konnte er im achtzehnten Jahrhundert die für Amerika so charakteristische Symbiose mit der Aufklärung eingehen, von der sich die Väter der Verfassung leiten ließen. Der aufklärerische Wettbewerb mit den Zielen der Selbstverwirklichung und Weltverbesserung ließ sich problemlos mit dem puritanischen Wettbewerb um Erwähltheitsbeweise vereinbaren. Das Fatale an der heutigen Situation ist, dass der Evangelikalismus nicht mehr die Intellektualität des Puritanismus hat, sondern sich im Gegenteil durch eine erschreckende geistige Dürftigkeit auszeichnet. Das Gleiche gilt auf der anderen Seite für die im Januar 2010 aufgekommene Tea Party, die sich mit ihrem Namen auf eine aufgeklärte Emanzipationsbewegung beruft. Am 16. Dezember 1773 hatten Bürger von Boston aus Protest gegen die von der Regierung des Mutterlands erhobenen Zölle die Teeladungen englischer Schiffe ins Meer geworfen, was als Boston Tea Party in den Gründungsmythos der Vereinigten Staaten einging. Wenn sich nun die heutige politische Protestbewegung diesen Namen zulegt, bringt sie zum Ausdruck, dass sie in der eigenen Regierung eine der Kolonialverwaltung vergleichbare Zwangsherrschaft sieht.

Staatsfeindlichkeit war von Anfang an ein Kernbestandteil des amerikanischen Denkens. Geoffrey Gorer, der 1948 mit seinem Buch „Die Amerikaner“ die erste empirische Analyse der amerikanischen Mentalität vorlegte, sah in der „Verwerfung des europäischen Vaters“ das Geburtstrauma der jungen Nation. Die Ablehnung väterlicher Autorität ist in Amerika allgegenwärtig. In unzähligen Hollywoodfilmen taucht als stereotypes Motiv ein Vater auf, der sich vor seinen Kindern bewähren und rechtfertigen muss. Anders als in europäischen Filmen, wo das Kind als schutzbedürftiges Wesen auftritt, erscheint es in amerikanischen als eine moralische Instanz, die zuletzt immer recht hat. Seit der Staatsgründung empfindet sich Amerika als das unschuldige Kind, das sich von seinem ungerechten Vater losgesagt hat. Aus dieser Autoritätsfeindlichkeit erklärt sich das amerikanische Insistieren auf der Gleichheit aller Bürger in einer als Gemeinschaft verstandenen Nation.

Der Grund, weshalb die Staatsfeindlichkeit bisher nie so krass hervortrat, ist leicht zu erkennen: auch die Amerikaner brauchten einen starken Staat, solange ihr Land von äußeren Feinden bedroht wurde. Allerdings bremste ihr latentes Misstrauen gegen die Staatsgewalt den hegemonialen Druck der Supermacht von innen her, weshalb die USA in der westlichen Welt als ein gutwilliger Riese auftrat, der mit großen eigenen Opfern anderen Völkern die Segnungen der Demokratie brachte und deren Feinde in Schach hielt. Gerade Deutschland hat das nach dem Zweiten Weltkrieg positiv erfahren. Dieser Riese ist nun ins Taumeln geraten, weil ihm nach dem Ende des Kalten Krieges das Widerlager des außenpolitischen Gegners abhanden gekommen ist. Der einzige Feind, den die Amerikaner heute als solchen empfinden, ist der nichtstaatliche Terrorismus, gegen den die zentrale Staatsgewalt machtlos ist; hier hilft in den Augen des rechten Lagers nur die moralische und waffentechnische Aufrüstung der Bürgerschaft.

In Büchern, in denen amerikanische Autoren sich mit ihrer nationalen Mentalität auseinandersetzen, taucht oft schon im Titel das Wort „paradox“ auf. Die Liste der Paradoxien ist lang: Amerikaner sind Individualisten mit Gemeinsinn und Isolationisten mit einer Neigung zur Rolle des Weltpolizisten; sie sind idealistische Materialisten, friedliebende Krieger, regierungsfeindliche Patrioten, antiautoritäre Heldenverehrer, konservative Fortschrittsfanatiker und Optimisten mit paranoider Angst vor dem Bösen. Die Wurzel dieser und vieler anderer Widersprüche ist der aufgezeigte Zwiespalt zwischen Aufklärung und Puritanismus. Mit der puritanischen, selbstgerechten Hälfte ihres Herzens lehnen sie im Vertrauen auf Gott die Staatsgewalt ab; mit der aufgeklärten, weltgerechten Hälfte erwarten sie vom Staat Law and Order. Und so steht jetzt dem individualistischen Freiheitspathos der Tea Party die noch jüngere Occupy-Wall-Street-Bewegung gegenüber, die soziale Gerechtigkeit einfordert. Selbstgerechtigkeit und Weltgerechtigkeit sind vielleicht die Begriffe, die das Paradoxe der amerikanischen Seele am allgemeinsten beschreiben.

Der tiefe Riss, der zur Zeit – ein Jahr vor der Präsidentenwahl im November 2012 – durch das amerikanische Bewusstsein geht, rührt daher, dass die außenpolitischen Voraussetzungen erschüttert sind. Solange der Feind ein hochgerüsteter Staat wie die Sowjetunion war, vertraute man auf die eigene Überlegenheit. Doch seit dem 11. September 2001 wissen die Amerikaner, dass das Böse ein Virus ist, der in jedem Menschen, der sich nicht hundertprozentig zum Amerikanismus bekennt, zum Ausbruch kommen kann. Wie allgegenwärtig diese Angst ist, lässt sich an den populären Katastrophenfilmen ablesen, die mit paranoider Besessenheit zeigen, wie echte Amerikaner gegen das Böse antreten und es in letzter Sekunde besiegen, wohl wissend, dass es schon wenig später wieder angreifen kann. In diesem Kampf hält die selbstgerechte Seite auch das für erlaubt, was das Ethos der Aufklärung verbietet: zum Beispiel Folter und Mord; denn die Agenten des Bösen haben in den Augen der Puritaner keinen Anspruch auf Menschenrecht. Das nagt an einem Grundpfeiler des amerikanischen Gemeinwesens: der Toleranz gegenüber Fremden.

Es wäre zynisch, den Amerikanern einen neuen außenpolitischen Gegner zu wünschen. Die bessere Alternative wäre eine „neue Frontier“, wie nach dem Sputnik-Schock, als Kennedy mit diesem Slogan zur Eroberung des Weltraums aufrief. Der psychosoziale Komplex, den der Frontier-Begriff bezeichnet, war neben Puritanismus und Aufklärung die dritte entscheidende Formkraft der amerikanischen Mentalität. An der Grenze zum Wilden Westen wurden typische Wesenszüge der Amerikaner geprägt: Optimismus, Kampfbereitschaft, Unternehmungsgeist, Nachbarschaftshilfe und Wertschätzung der Frau. Doch diese Wertnormen blieben, wie die individualistischen Werte des Puritanismus, auf das Zusammenleben in der Gemeinde beschränkt und wurden nicht zu Normen staatlichen Handelns. Würden die Amerikaner aber zum Beispiel die Bedrohung durch den Klimawandel als ihre neue Frontier erkennen, müssten sie einsehen, dass dies kollektives Handeln erfordert. Noch sind sie nicht so weit, diese Herausforderung anzunehmen und darauf mit der ihnen eigenen Tatkraft zu reagieren. Stattdessen lässt sich die Mehrheit immer noch einreden, dass die Bedrohung entweder gar nicht existiere oder durch technischen Fortschritt zu besiegen sei. Doch wenn Amerika nicht auch hier, wie einst im Kampf um Freiheit und Demokratie, zum Hoffnungsträger wird, gibt es wenig Hoffnung für den Rest der Welt.

Hans-Dieter Gelfert

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