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Meinung: Doppelte Geiselhaft

Al Qaida hat den Westen, aber auch die arabische Welt manipuliert. Das ist nun vorbei

Mit den Terroranschlägen des 11. September hat Al Qaida den Westen und die arabisch-muslimische Welt in Geiselhaft genommen. Sie schlugen ein neues Kapitel in den Beziehungen auf, ein unheilvolles. Die im Namen des Islam ausgeführten Taten haben dazu geführt, dass der Westen in allen Muslimen Terroristen oder potenzielle Angreifer sah. Damit hat Al Qaida nicht nur den Blick des Westens gefährlich verengt. Sie hat gleichzeitig die gesamte arabische Region als Geisel genommen – eigentlich ihr größter Erfolg.

Denn die Menschen mussten sich entscheiden zwischen US-Präsident George W. Bush und seinem Gegenspieler Osama bin Laden. Da Bush mit seinen Kriegseinsätzen wie kaum ein US-Präsident die anti-amerikanischen Gefühle befeuert hat, entschieden sich viele Araber stillschweigend und notgedrungen für bin Laden – indem sie sich nicht deutlich von dessen Taten distanzierten. Dass die arabisch-islamische Welt sich seither längst eindeutig von ihm abgewandt hat, blieb Europa und den USA verborgen. Erst die Volksaufstände in der arabischen Welt, die der Westen mit Sympathie begleitet, haben ihm dafür die Augen geöffnet.

Der Westen war anfangs vielleicht zu Recht irritiert. Denn Bin Laden, der mit der Aura eines Robin Hood der Wüste spielte, hatte natürlich Sympathien in der arabischen Welt. Legte er doch den Finger auf die Wunden der geschundenen Nationen: Sie waren unter ihren despotischen Herrschern nicht nur unterdrückt, sondern auch Spielball der Weltgeschichte geworden, und ihre eigenen Herrscher boten den Amerikanern in der Region zu wenig Einhalt. Vielmehr rückten die im Kampf gegen den Al-Qaida-Terror, der auch ihre eigene Macht bedrohte, noch näher an die USA heran. Damit hat Bush vielleicht ungewollt zur weiteren Entfremdung der Völker von ihren Regimen beigetragen, die dann zehn Jahre nach dem 11. September in den Aufständen mündeten.

Doch nicht nur der Terror, dem deutlich mehr Menschen in der arabischen Welt als im Westen zum Opfer fielen, ließ Al Qaidas Stern in Arabien verblassen. Die Menschen in der Region zahlten auch einen anderen hohen Preis: Araber konnten nur noch unter größten Schwierigkeiten und Schikanen in den Westen reisen, sie galten kollektiv als verdächtig und der Islam war stigmatisiert. Zudem hat Bin Laden die Nationen keinen Schritt vorangebracht in ihrem Streben nach mehr Würde und Freiheit im Inneren und Äußeren. Dies schließt nicht aus, dass sich Einzelne immer noch von Bin Ladens Gedankengut inspirieren lassen, wie die Aufdeckung einer Terrorzelle in Berlin zeigt.

Doch die arabische Welt will heute an ein anderes Erbe als den angeblich ursprünglichen Islam anknüpfen. Nämlich an die Arabische Renaissance am Ende des 19. Jahrhunderts. Damals waren Liberalismus und Reform des Islam starke Strömungen in der Region. Die westlichen Nationen waren (noch) nicht der Feind, der hieß Osmanisches Reich. Wenn auch der Westen seine neue Politik der Behutsamkeit und des Respekts ausbaut, wird das am 11. September 2001 eingeläutete Jahrzehnt der Feindseligkeit als Intermezzo der Weltgeschichte gelten.

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