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Meinung: Drei Milliarden Buchstaben suchen eine Zukunft

Das Genomprojekt ist vollendet – aber die positiven Auswirkungen auf die Medizin brauchen noch Zeit

Von Hartmut Wewetzer

Wenn eine Pressekonferenz in Washington stattfindet und mit dem Etikett „historisch“ versehen wird, dann denkt man dieser Tage als erstes an den Irak-Krieg. Aber das ist ausnahmsweise ein Irrtum. Heute geht es in der amerikanischen Hauptstadt um ein friedliches Vorhaben: Wissenschaftler verkünden, dass das menschliche Genom „fertig“ ist, die drei Milliarden Bausteine sind durchbuchstabiert. Nach 13 Jahren ist das öffentlich geförderte Genomprojekt am Ziel.

Aber es gibt dann doch eine klitzekleine Parallele zu den politischen Ereignissen der letzten Wochen. Denn den allergrößten Teil der Genom-Sequenzierung haben sich Amerikaner und Briten geteilt – mithin die Allianz. Deutsche, Franzosen, Japaner und Chinesen verantworten nur einen kleinen Teil.

Wir erinnern uns: Im Juni 2000 hatte der damalige US-Präsident Bill Clinton gemeinsam mit Craig Venter von der Biotech-Firma Celera und Francis Collins vom öffentlichen Genom-Projekt die Komplettierung der Erbgut-Entzifferung gefeiert, es folgte die ebenfalls zelebrierte Veröffentlichung der zwei Genom-Fassungen in den Fachzeitschriften „Nature“ und „Science“ im Februar 2001.

Warum also jetzt nochmals eine Genom-Party? Das hat gewiss Reklamegründe, aber durchaus auch einen ganz handfesten wissenschaftlichen Grund. Bislang waren nur gut 90 Prozent des Erbguts buchstabiert, jetzt wird es nahezu vollständig sein. „Die Genom-Ära ist Wirklichkeit geworden“, sagt Francis Collins.

Was bedeutet das für uns? Und: Hat sich der materielle Aufwand des Genom-Projekts gelohnt? Selbst einstige Skeptiker aus der Wissenschaftlergemeinde bezweifeln heute kaum noch den Nutzen des Vorhabens. Die Genom-Sequenz – oder jedenfalls eine Standardausgabe – ist heute für jedermann frei im Internet verfügbar. Das ist – 50 Jahre nach der Entdeckung der DNS-Struktur – ein großer Schritt.

Wir haben gelernt, dass unser Genom eigentlich nicht aus dem Rahmen der Evolution fällt. Es besitzt überraschend wenige Gene – nur etwa doppelt so viele wie die Taufliege Drosophila oder der Fadenwurm C. elegans –, und 99 Prozent unserer Erbanlagen haben ihr Pendant in entsprechenden Genen bei der Maus. Schließlich: Das menschliche Erbgut gleicht einem Einwanderungsland – es finden sich reichlich Spuren von Bakterien und Viren in der Sequenz. Kurzum: die ganze Geschichte unserer Spezies ist in der Erbinformation dokumentiert – ein biologisches Archiv, das drei Milliarden Jahre Entwicklung umfasst und sich in jeder unserer 100 Billionen Zellen befindet.

So faszinierend diese Einsichten sind, so bruchstückhaft sind sie. Denn um die Entwicklung des Menschen und seine Einzigartigkeit zu verstehen, reicht es nicht, auf die Gene zu starren. Das Leben ist in einem Netzwerk organisiert, in dem Gene, Proteine und Umwelteinflüsse zusammenwirken. Es wird Jahrzehnte dauern, bis wir dieses System wirklich verstanden haben – wenn wir es jemals verstehen.

Deshalb ist die fertige Genom-Sequenz erst das Ende vom Anfang. Das gilt in einem noch viel stärkeren Maße für die Hoffnungen, die viele auf die medizinische Nutzung des Genoms setzen. In den letzten Monaten war eher von Rückschlägen die Rede, etwa von schweren Nebenwirkungen der einst mit viel Vorschusslorbeeren bedachten Gentherapie. Gerade die Entwicklung gen-basierter Arzneien braucht vermutlich mehr Zeit als in der ersten Euphorie angenommen. Aber fest steht auch, dass es sie eines Tages geben wird.

Die Erforschung der Gene und Proteine geht in ihre nächste Phase, die Entwicklung neuer Therapien rückt näher. Deutschland sollte nicht noch einmal den Fehler begehen und die Entwicklung verschlafen, wie in der ersten Phase der Genomforschung. Jetzt kommt es darauf an, dabei zu sein. Das hilft der Forschung, dem Land – und vor allem den Patienten.

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