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Meinung: Ein Fall für den Ajatollah

Der Radikale al Sadr fordert nicht die USA heraus, sondern Iraks gemäßigte Schiiten

Mehr als 60 Tote, die schwersten Gefechte überhaupt zwischen der Besatzungsmacht im Irak und den Schiiten, das sind beunruhigende Nachrichten. Von wachsendem Chaos, von drohendem Bürgerkrieg ist in den Nachrichten die Rede. So stellt sich das für die Außenwelt dar: Die Amerikaner und ihre Verbündeten kriegen offenbar gar nichts mehr geregelt.

Zu den Anschlägen, zu den Konflikten mit den Sunniten, die unter Saddam die Herrschaftsschicht stellten, und den Problemen im Kurdengebiet kommen nun auch noch Gefechte mit der größten Bevölkerungsgruppe, den Schiiten; wenigstens die hatten doch bisher die westlichen Soldaten als Befreier begrüßt. Und jetzt wird selbst im bislang ruhigen Basra geschossen.

Dieses Bild von zusätzlichen Problemen für Bushs Nachkriegskoalition ist nicht falsch – und führt dennoch in die Irre. Bei den blutigen Gefechten vom Wochenende geht es nicht in erster Linie um einen Kampf gegen „die Besatzer“. Sondern um einen innerirakischen Machtkampf, der schon lange absehbar war: Wem gebührt die Führung über die Schiiten, dem gemäßigten religiösen Führer, Ajatollah Sistani, oder dem radikalen Heißsporn Muqtada al Sadr, der diese Unruhen gezielt provoziert hat? Wer das Sagen bei den Schiiten hat, der hat über kurz oder lang die Führung im ganzen Irak – jedenfalls unter halbwegs demokratischen Verhältnissen; denn die Schiiten stellen rund 60 Prozent der Bevölkerung.

Der radikale al Sadr hat unter friedlichen Bedingungen keine Chance auf eine Führungsrolle. Er ist Anfang 30, ihm fehlen die Voraussetzungen, als geistlicher Führer anerkannt zu werden. Er hat sich selbst dazu ernannt – unter Berufung auf seinen Vater, Großajatollah Mohammed Sadek al Sadr, der 1999 ermordet worden war, angeblich auf Saddam Husseins Befehl.

Über die Monate hatte der angesehene, aus Iran stammende Ajatollah Sistani den Fundamentalisten geschickt ins Abseits manövriert. Er war und bleibt ein verantwortungsbewusster Ansprechpartner, auf den die Mehrheit hört. Al Sadr mit seinen antiamerikanischen Hassparolen ist nur in den Armenvierteln populär. Die Besitzenden, auch der kleine Mittelstand, halten es mit Sistani – bei Unruhen, bei Bürgerkrieg, einer fundamentalistischen Revolution gar können sie nur verlieren.

Nur steht die Logik der Gewalt gegen die gemäßigte Mehrheit, überall auf der Welt. Wenn es gelingt, anhaltende Kämpfe zu provozieren und den Schmerz über die Toten in den eigenen Reihen zum Hass gegen „die anderen“ zu kanalisieren, ruft die Masse irgendwann automatisch nach den radikalen Führern – ob bei den bosnischen Serben, den Kosovo-Albanern oder nun bei Iraks Schiiten.

Für die Amerikaner und ihre Verbündeten kommt es nun darauf an, al Sadr gewaltsam in die Schranken zu weisen, ohne ihm dabei in diese Falle zu gehen. Denn genau das möchte er ja: Gefechte gegen die Besatzungssoldaten, die jeden seiner Gefallenen zum Märtyrer machen – und ihn zum Verteidiger der nationalen Sache. Das würde verdecken, dass er seinen Kampf eigentlich gegen den angesehenen schiitischen Rivalen Sistani führt.

Insofern ist es gut, dass die irakischen Behörden einen Haftbefehl gegen al Sadr ausgestellt haben – und damit der Forderung des amerikanischen Zivilverwalters Paul Bremer nachkommen, der von Iraks Übergangsregierung und von Ajatollah Sistani eine Erklärung verlangt hatte, dass auch für sie Muqtada al Sadr außerhalb des Gesetzes steht. Die irakischen Autoritäten beanspruchen die Regierungsmacht – spätestens zum 1. Juli. Dann müssen auch sie selbst Mitverantwortung dafür übernehmen, das Gewaltmonopol des Staates gegen solche Privatarmeen wie die al Sadrs durchzusetzen. Dafür gibt es inzwischen eine irakische Polizei und eine Bürgerwehr, die zum Kern der künftigen Armee werden soll.

An der Abwehr der radikalen, der fundamentalistischen Herausforderung müssen die gemäßigten Iraker sich nicht den Amerikanern zuliebe beteiligen. Sie sollten es aus dem Eigeninteresse heraus tun, die Eskalation zu verhindern. Auch Ajatollah Sistani ist ein klares Wort gegen al Sadr nicht in erster Linie den Besatzern schuldig. Sondern seinem Volk – und auch seinem eigenen Führungsanspruch. Er hat es in der Hand, den Bürgerkrieg abzuwenden. Aber nur, wenn er nicht schweigt.

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