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Meinung: Ein Lob auf Europas Defizite

Die Demokratie neigt zu Auflösung und Vielstaaterei, das hindert die EU an der Integration / Von Wilhelm Hennis

Europa wird größer. Was kann die bald 450 Millionen Europäer verbinden? Wo liegen die Gemeinsamkeiten, wo die Meinungsverschiedenheiten? In einer gemeinsamen Serie von Tagesspiegel und DeutschlandRadio Berlin suchen prominente Europäer Identität und Perspektiven des künftigen Europa. Zu hören sind die Beiträge sonntags um 12 Uhr 10 im DeutschlandRadio Berlin (UKW 89,6).

Die Frage, die man mir gestellt hat, erscheint klar und eindeutig: Kann aus Europa eine Demokratie werden? Wenn die Frage so klar und eindeutig wäre, könnte es auch nur eine gleich klare und eindeutige Antwort geben. Und das wäre ein klares Nein. Aus Europa, dessen solidarisches Zusammenwachsen sich jeder Einsichtige wünschen wird – es sollte nie wieder Krieg zwischen europäischen Völkern geben – kann nie und nimmer eine Demokratie werden.

Aber steht dem nicht die Präambel des mit dem Namen Giscard d’Estaings verbundenen Entwurfs einer Europäischen Verfassung entgegen? Die Präambel zitiert einen Satz aus der berühmten Leichenrede des Perikles. In dieser Rede, im Winter 431/430 vor Christus, also vor circa 2500 Jahren gehalten, vergleicht der große athenische Volksführer (griechisch: Demagoge) das herrliche Athen mit dem strengen Militärstaat Spartas. Da heißt es, und diesen Satz hat man als Motto für die Präambel des Verfassungsentwurfs gewählt: „Wir leben in einer Staatsverfassung, die nicht den Gesetzen der Nachbarn nachstrebt … Ihr Name ist Demokratie – Volksherrschaft –, weil sie nicht auf einer Minderzahl, sondern auf der Mehrzahl der Bürger beruht.“ Verknappt heißt das: Bei uns sind die vielen an der Herrschaft beteiligt, bei den anderen nur wenige, häufig nur einer, ein Tyrann oder Monarch, oder mehrere – die Reichen, Vornehmen, also aristokratische Herrschaften.

Diese aus der griechischen Lust am Vergleichen entstandenen Begriffe dominieren das politische BegriffsArsenal Europas bis in unsere Tage. Aber es sind weithin Begriffe aus dem humanistischen Schulsack, und einige sind immerhin weiter dienlich, eine moderne Verfassung zu kennzeichnen.

Etwa den Gegensatz von Monarchien und Republiken. Bevor die Franzosen 1793 ihren König Ludwig XVI. auf die Guillotine schickten und Frankreich erstmals eine Republik wurde, stand der Titel der Republik unter den bedeutenden Staaten Europas nur Venedig, der Serenissima, zu, an deren Regiment aber nur wenige hocharistokratische patrizische Familien beteiligt waren. Über zweieinhalb Jahrtausende hinweg war Demokratie ein Begriff der Schule, des Buchwissens. In der Wirklichkeit gab es sie nicht. Auch die Vereinigten Staaten von Amerika, die sich in einem langen Krieg von der britischen Herrschaft befreiten, konnte man bis in unsere Tage hinein nur mit großen Einschränkungen als Demokratie bezeichnen.

Als Hoffnungsbegriff, als Inbegriff der guten, erstrebenswerten Herrschaftsweise kann Demokratie allenfalls seit 1919 gelten, als Woodrow Wilson, der amerikanische Präsident meinte, nach dem großen Krieg würde der von ihm inspirierte Völkerbund die Welt „safe for democracy“, sicher für die allgemeine Durchsetzung der Demokratie machen. Aber zu diesem Zeitpunkt war der Begriff bereits untrennbar mit dem der Nation, ihrem Recht auf Selbstbestimmung verbunden. An der K.u.K.-Monarchie Österreich-Ungarns zeitigte der Demokratiebegriff seine auflösende Sprengkraft. Im Namen der Demokratie löste sich die alte Monarchie in ihre nationalen Bestandteile auf.

Der Zerfall des Sowjetimperiums nach Gorbatschows Perestroika erfolgte wieder im Namen des demokratischen Selbstbestimmungsrechts der Nationen. Polen erstand wieder, die baltischen Staaten waren wieder da, Weißrussland und die Ukraine, nur um die uns nächsten zu nennen, wurden selbstständige Staaten.

Es ist also ein Irrtum, der Demokratie magnetische Anziehungskraft zuzuschreiben. Im Namen der Demokratie will das Baskenland sich von Spanien, Korsika sich von Frankreich, Schottland sich vielleicht einmal ganz von England lösen. Die Demokratie tendiert dazu, die Zahl der souveränen Staaten zu vermehren. Sie kann politisch nur integrieren, was schon aus anderen historischen Substanzen zu einer Einheit geworden ist. Imperien vereinigen mit Gewalt, Demokratien tendieren zur Auflösung in ihre Teile unter Schmerzen – man vergegenwärtige sich doch nur das Schicksal des ehemaligen Jugoslawien, ein Versailler Kunstprodukt unter der Hegemonialmacht der Serben.

Kurzum: Wer Europa (wo liegen eigentlich seine Grenzen?) wirklich will, der sollte aufhören, von seinem Demokratie-Defizit zu sprechen. Ein zusammenwachsendes Europa – so es denn zusammenwächst – ist kein Kind der Liebe, des Zusammengehörigkeitsgefühls, sondern ein Kind des Interesses, vielleicht der Notwendigkeit. Europa, wenn es denn friedlich weiter zusammenwächst, wird ein Kunstprodukt sein – wie zu hoffen: wirklich staatsmännischer Kunst. Und die braucht einen langen Atem, über den die Moderne nicht verfügt. Sie will alles gleich und möglichst perfekt. Europa sollte aufpassen, dass es sich nicht demokratisch übernimmt.

Der Autor zählt zu den wichtigsten deutschen Politologen. Bis zur Emeritierung lehrte er an der Universität Freiburg . Foto: dpa

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