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Ein SPRUCH: Lob dem Abweichler

Norbert Lammert ist als Bundestagspräsident protokollarisch zweiter Mann im Staat, eine Position, in der sich die wenigsten zu Subversion bekennen. Dennoch, seine Entscheidung, die Abgeordneten Frank Schäffler (FDP) und Klaus-Peter Willsch (CDU) am Donnerstag überraschend zum Euro-Rettungsschirm reden zu lassen, hatte etwas von einem parlamentarischen Heckenschuss – ob mit den Mitteln des Rechts oder gegen sie, klärt das hohe Haus nun selbst.

Norbert Lammert ist als Bundestagspräsident protokollarisch zweiter Mann im Staat, eine Position, in der sich die wenigsten zu Subversion bekennen. Dennoch, seine Entscheidung, die Abgeordneten Frank Schäffler (FDP) und Klaus-Peter Willsch (CDU) am Donnerstag überraschend zum Euro-Rettungsschirm reden zu lassen, hatte etwas von einem parlamentarischen Heckenschuss – ob mit den Mitteln des Rechts oder gegen sie, klärt das hohe Haus nun selbst.

Die beiden Eurokurs-Abweichler waren von ihren Fraktionen nicht auf die Rednerlisten gesetzt worden. Doch ein Abweichler wäre kein Abweichler, fügte er sich hier. Also erbaten die beiden Redezeit und bekamen sie. Lammert zitierte dazu aus einem Kommentar zur Geschäftsordnung des Bundestags, wo es zu Abweichlern heißt, der Präsident müsse ihnen unabhängig von der Fraktion wegen ihres verfassungsmäßigen Rederechts das Wort erteilen. Und er bezog sich auf das „Wüppesahl-Urteil“ des Verfassungsgerichts von 1989, mit dem der damals fraktionslose Ex-Grünen-Politiker Thomas Wüppesahl ein Rederecht erstritten hatte.

Die Parlamentarier halten Lammert nun nicht ganz zu Unrecht entgegen, dass Einzelmeinungen sich erst zu einem gewissen Abweichlertum verdichtet haben müssen, damit Redner als Fraktionsmitglieder Anspruch darauf haben, sich über die Liste zu Wort zu melden. Allerdings heißt es im Grundgesetz, die Abgeordneten seien Vertreter des ganzen (!) Volkes. Dort steht weiter, dass der Bundestag „verhandelt“, und seine Geschäftsordnung legt großen Wert auf Rede und Gegenrede. Unterm Strich: Mit Debattenbeiträgen sollen die Volksvertreter nicht ihr Volk überzeugen, sondern das Volk soll sich überzeugen können, dass ihre Vertreter es in seiner ganzen Vielfalt vertreten. Pluralismus ist Verfassungspflicht.

Bei der Euro-Debatte war vor der Abstimmung davon wenig zu spüren. Insofern mag Lammert gegen Brauchtum verstoßen und einen nicht ganz unproblematischen Präzedenzfall geschaffen haben, denn de facto kann nicht jeder im Plenum zu einem Thema reden, zu dem er eine Meinung hat. Doch weil Volkes Meinung in Sachen Euro im Bundestag ansonsten etwas untergepflügt wurde, hat er den Absichten des Grundgesetzes einen Dienst erwiesen. Ohne Abweichler gäbe es keinen Aufbruch, keine Denkanstöße. Das Schweigen des Abweichlers wäre das Ende der Demokratie.

Der Politiker Wüppesahl übrigens wurde später zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Er soll einen Raubmord mitgeplant haben. Norbert Lammert, Abweichler auch hier, entschied sich für eine ungewöhnliche Resozialisierungsmaßnahme. Er lud den wieder Entlassenen 2009 zur 60-Jahr-Feier in den Bundestag.

Wenn es im Parlament irgendwann keine Abweichler mehr gibt – Norbert Lammert wird immer einer bleiben.

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