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Ein Zwischenruf zur Aufklärung: Wo bleiben Verstand und kritisches Denken?

Wird das Denken und Handeln in religiösen Kategorien – "mit den Taliban beten ist besser als bomben" – künftig populärer und bestimmender als politische Konzepte und Entscheidungen? Barbara John über die neuen Utopisten und ihre einfachen Lösungen.

Ich beobachte derzeit eine Entwicklung, die in Deutschland wieder in Mode zu kommen scheint: das Prophezeien von Gewissheiten über Gegenwart und Zukunft. Das klingt dann so: „Nichts ist gut in Deutschland, solange Kinder arm sind.“ Was heißt das anderes als: Hier ist jetzt alles schlecht. Da wird nicht mehr begründet, nicht mehr argumentiert und konkret kritisiert, sondern nur noch festgestellt. Weissagungen dieser Art haben unter anderem die evangelische Theologin Margot Käßmann derzeit zu einer der bekanntesten Frauen in Deutschland aufsteigen lassen. Wenn sie als Rednerin angekündigt wird, ist jede Veranstaltung schon Stunden vor Beginn überfüllt, wie gerade wieder auf dem Kirchentag in Dresden. Fast alle ihre Bücher sind Bestseller. Gut für sie. Nur, lassen sich mit prophetischen Reden konkrete Probleme anpacken?

Oder geht es gar nicht darum? Worum aber soll es sonst gehen, wenn von irdischen Missständen die Rede ist und nicht von Glaubensfragen? Haben wir es mit der Rückkehr religiöser Utopien in unsere freiheitliche Welt zu tun? Ist es vorbei mit der gesellschaftlichen Säkularisierung, der Frucht der Aufklärung und der Französischen Revolution? Wird das Denken und Handeln in religiösen Kategorien – „mit den Taliban beten ist besser als bomben“ – künftig populärer und bestimmender als politische Konzepte und Entscheidungen?

Ich halte (als Christin) gar nichts von Wirklichkeitsdeutungen, die sich, aufgrund ihrer orakelhaften Formulierung, inhaltlich jedem Einwand entziehen. Verstand und kritisches Denken werden nicht mehr gebraucht. Warum abwägen, wenn, wie es in einer Kirchentagsresolution heißt, nicht Wirtschaftswachstum „gewollt und wichtig ist“, sondern „Wachsen an Gerechtigkeit, Nächstenliebe, Zeit, Kultur, Glaube und Engagement“. Warum sollen das überhaupt Gegensätze sein?

Woher nach Jahrzehnten nüchterner Politikgestaltung plötzlich die Nachfrage nach den einfachen, wahren Lösungen kommt, liegt auf der Hand. Es ist der rasante Wandel weltweit in Technik und Gesellschaft: Was eben noch als Goldstandard galt für das Klima zum Beispiel, nämlich die Atomkraftwerke, landet gerade auf dem Schrottplatz. Wer sehnt sich jetzt nicht nach Gewissheiten, etwa der Art, dass Konflikte grundsätzlich gewaltfrei gelöst werden können, dass jeder Mensch hat, was er braucht? Doch da hilft nur eins: die Sehnsucht bewahren und Fehler konkret verbessern. So sind wir zum Flugzeug und zur modernen Sozialpolitik gekommen.

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