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Meinung: Eine Orgie der Entrüstung

Erst die Dänen, jetzt der Papst: Es steht zwei zu null für die Fundamentalisten / Von Henryk M. Broder

Scheich Jussuf al Kardawi hat den Freitag dieser Woche zu einem „Tag des Zorns“ gegen den Papst ausgerufen, den Muslimen allerdings verboten, bei den Protesten „Kirchen anzugreifen“. Kardawi, für die sunnitischen Muslime eine hohe Autorität, war mit der Klarstellung des Papstes nicht zufrieden. „Das sind keine Entschuldigungen“, sagte er in einer Fernsehansprache auf Al Dschasira, „das ist ein an die Muslime gerichteter Vorwurf, dass sie seine Worte nicht verstanden haben.“ Solange Benedikt XVI. seine Worte nicht zurückziehe, werde der Dialog zwischen Muslimen und Christen eingestellt, erklärte der Sprecher der „Weltunion der muslimischen Ulemas“, der Vereinigung der Rechtsgelehrten.

Wie ich sie liebe, die Bilder der empörten Massen, die durch die Straßen toben, die Fäuste geballt, die Gesichter von Wut und Hass gezeichnet, als wären sie vor dem Leibhaftigen auf der Flucht. Ich kann nicht anders, ich muss mich jedes Mal fragen: Woher nehmen diese Menschen die Zeit für solche Randale, müssen sie nicht zur Arbeit, haben sie keine Familien daheim, um die sie sich kümmern, keine Kinder, denen sie bei den Hausaufgaben helfen könnten?

Diese „spontanen“ Ausbrüche der Wut sind gut choreografiert und präzise synchronisiert. Irgendwo in Saudi-Arabien oder Pakistan gibt es eine Fahnenfabrik, die Anfang des Jahres dänische Fahnen hergestellt hat und in der jetzt im Akkord Vatikan-Fahnen genäht werden – für den arabisch-islamischen Binnenmarkt. Es gibt über eine Milliarde Muslime, wenn nur jeder hundertste eine Fahne kauft, um sie anschließend zu verbrennen, macht das mehr als zehn Millionen „Winkelemente“ mit extrem kurzer Lebensdauer.

Was wir derzeit erleben, ist keine Kundgebung politischen Willens, sondern der Ausbruch einer Massenhysterie, die mit einer Selbstentzündung anfängt, zu einem Flächenbrand eskaliert und erst endet, wenn die Teilnehmer zu erschöpft sind, um weiter zu toben. Aber die Empörung, die der Erregung vorausgeht, ist auch ein Ersatz für Produktivität und Kreativität. Denn die Massendemos – gestern gegen die Dänen, heute gegen den Papst – sind so ziemlich das einzige Produkt, das zum Export taugt. Die Dänen stellen Schokolade und Milchprodukte her, die Finnen produzieren Hightech-Geräte, die Japaner Kameras, die Isländer Lachs und Literatur, die Italiener Schuhe und Parmaschinken. Welche Produkte sind es, die uns aus dem arabisch-islamischen Raum erreichen, von Erdöl und Falafel einmal abgesehen?

Wahrscheinlich fällt es inzwischen unter „Islamophobie“, wenn man feststellt, dass der Beitrag der arabisch-islamischen Region zur Weltkultur seit dem Mittelalter ständig abgenommen hat. Die Liste der Nobelpreisträger der letzten Jahrzehnte, vor allem in den Naturwissenschaften, belegt, dass sich die arabisch-islamische Welt vom Fortschritt abgekoppelt hat. Stattdessen beschäftigen sich islamisch-arabische Gelehrte mit so bedeutenden Fragen wie der, ob völlige Nacktheit beim ehelichen Verkehr erlaubt oder eine Sünde ist. In Gesellschaften, in denen die eine Hälfte der Gesellschaft (die Männer) damit beschäftigt ist, die andere Hälfte der Gesellschaft (die Frauen) zu unterdrücken, kann es keinen politischen, sozialen oder ökonomischen Fortschritt geben, zu viele Ressourcen werden für die Erhaltung des Status quo verbraucht. Arabisch-islamische Intellektuelle wie Salman Rushdie, Ibn Warraq, Bassam Tibi, Wafa Sultan oder Necla Kelek wissen das, sind aber nicht in der Lage, die Situation zu ändern, schon deswegen, weil sie es aus guten Gründen vorziehen, fern ihrer ursprünglichen Heimat zu leben.

Die wellenartig verlaufenden Empörungsausbrüche geben die Gemütslage der Empörten wie eine Fieberkurve wieder. Die Abstände zwischen den Ausbrüchen werden immer kürzer, dass sich nur wenige Zeitungen (darunter eine jordanische) getraut haben, die Mohammed-Karikaturen aus „Jyllands-Posten“ nachzudrucken, und dass sich keine Regierung der „freien Welt“ mit Dänemark solidarisiert hat, als die Botschaften der Dänen in Beirut und Damaskus abgefackelt wurden, hat die Empörung nicht gedämpft, sondern nur weiter angefacht. Dass der Papst seine Äußerungen „bedauert“ und erklärt hat, es sei nicht seine Absicht gewesen, die religiösen Gefühle der Muslime zu verletzen, wird den nächsten Ausbruch der Empörung nicht verhindern, sondern beschleunigen.

Wollte man nett sein, könnte man die Randale als eine Art Wortmeldung verstehen, wie sie auch bei verhaltensauffälligen Kindern vorkommt, die nicht wissen, womit sie die Aufmerksamkeit auf sich lenken sollen. „Da sind wir, es gibt uns noch, schaut mal her!“ Was aber bei Kindern mit therapeutischen Maßnahmen aufgefangen werden kann, führt bei Kollektiven in die Selbstaufgabe. Jede Entschuldigung, jeder Verzicht auf selbstverständliche Grundrechte, wie sie auch dem Papst zustehen, wenn er eine Predigt oder eine philosophische Vorlesung hält, legitimiert nur den Protest, dessen Träger ihrerseits sich jede Kritik verbitten. Den Vorwurf, sie hätten ein gestörtes Verhältnis zur Gewalt, beantworten militante Muslime mit der Drohung, jeden umzubringen, der ihnen das unterstellt.

Es steht nun zwei zu null für die Fundamentalisten. Die Dänen haben „deeskaliert“ und der Papst hat einen Rückzieher gemacht. Jetzt geht die Fieberkurve langsam nach unten, aber bald wird sie wieder steigen. Nur der Anlass steht noch nicht fest. Sollte sich ein Theaterintendant trauen, Voltaires Stück „Mahomet“ aus dem Jahre 1741 aufzuführen, muss er sich der Folgen bewusst sein. Sollte ein Berliner Bezirksbürgermeister die Genehmigung für den Bau einer Moschee davon abhängig machen, dass auch in Riad oder Islamabad eine Kirche gebaut werden darf, weiß er, welches Risiko er eingeht.

Dabei ist der fundamentalistische Terror längst in der deutschen Etappe angekommen. Die deutsch-türkische Rechtsanwältin Seyran Ates, die vor allem türkische Frauen gegen ihre Männer vertrat, hat unlängst ihre Berliner Kanzlei zugemacht, nachdem sie vor Jahren einen Mordanschlag überlebt hatte und seitdem immer wieder bedroht worden war. Diese Geschichte spielte im Wahlkampf kaum eine Rolle; die Berliner SPD, der Seyran Ates angehört, hat sich weder vor noch hinter die Anwältin gestellt, vermutlich um ihre türkisch-deutsche Klientel nicht zu verärgern. Inzwischen hat ihr eine Berliner Anwaltskanzlei Arbeit und Schutz angeboten.

Vergangene Woche hat der holländische Justizminister Piet Hein Donner, ein Christdemokrat, erklärt, er könnte sich die Einführung der „Scharia“ in Holland vorstellen, wenn die Mehrheit der Wähler dafür wäre. Ging es um Drogen, Pornografie, Abtreibung und Euthanasie, waren die Holländer immer schneller als der Rest von Europa. Jetzt gehen sie wieder mit gutem Beispiel voran. Leider in die falsche Richtung.

Der Autor ist Reporter beim „Spiegel“.

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