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Meinung: Eine zweite türkische Revolution

Seit zehn Jahren regiert in Ankara Erdogans AKP, das Land hat sich enorm verändert – doch das reicht nicht.

Das Jahr 2012 markiert in der Türkei das zehnte Jahr der AKP-Regierung. Die Partei von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat das Land in dieser Zeit mit revolutionären Neuerungen verändert. Doch nach einem Jahrzehnt AKP braucht die Türkei, die als Erfolgsmodell für die Staaten des Nahen Ostens nach dem Arabischen Frühling fungieren will, dringend eine zweite Revolution. Sie wird schwieriger sein als die erste. Denn anders als beim ersten Reformschub wird es kaum Hilfe der EU geben.

Erdogan und die AKP haben sich seit dem ersten Wahlsieg der Partei im November 2002 das Verdienst erworben, etliche undemokratische Hindernisse in der Türkei aus dem Weg geräumt zu haben. Den Schlussstein setzte Erdogan, als er im vergangenen Sommer die Militärs in die Schranken wies. Bei der zweiten Revolution, die jetzt gebraucht wird, geht es nicht mehr darum, altes Unrecht zu beseitigen, sondern darum, neues Unrecht zu verhindern.

Obwohl die Türkei im Zuge ihrer EU-Reformen die Meinungs- und Versammlungsfreiheit gestärkt hat, sitzen etliche Journalisten und Studenten in Haft. Die Justiz hebelt die neu verankerten Freiheitsrechte aus, indem sie Beiträge von Journalisten oder Protestkundgebungen von Studenten kurzerhand zu Terrorakten erklärt.

Teilweise wenden die Staatsanwälte dabei absurde Tricks an. In einem Prozess wurden Regenschirme zu Waffen angeblich terroristischer Studenten erklärt. In einem anderen Fall verwandelten sich Notizen für den Vortrag einer Professorin in den Augen der Staatsanwaltschaft zu Dokumenten der kurdischen PKK. Bei solchen Methoden kann alles Mögliche zum Beweismittel werden. Mit rechtsstaatlichen Grundsätzen hat das nichts mehr zu tun.

Die Regierung Erdogan hat zwar in einigen Fällen ihr Unbehagen über das Vorgehen der Justiz ausgedrückt, aber nichts unternommen, um sie zu stoppen. So gehen wichtige demokratische Errungenschaften verloren, Willkür und Verbotsmentalität treten an die Stelle von garantierten Grundrechten. Anders als in der Vergangenheit kann die Regierung nicht mehr darauf verweisen, dass sie leider eine mit Betonköpfen durchsetzte Justiz geerbt hat. Eine Politik, die es in zehn Jahren nicht schafft, demokratische Grundsätze bei Richtern und Staatsanwälten zu verankern, ist entweder nicht willens oder nicht in der Lage, dies zu tun.

Die Voraussetzungen dafür, im Rahmen der derzeit laufenden Gespräche über eine neue türkische Verfassung die Justiz zu reformieren und damit die Demokratie zu sichern, sind deshalb nicht die besten. Darüber hinaus müssen die Türken diesen neuen wichtigen Reformschritt auch noch alleine gehen – ohne die Aussicht auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union, die während der ersten Reformwelle zwischen 2003 und 2005 bei der Überwindung von Widerständen eine große Rolle spielte.

Mit der offenen Ablehnung der Bewerbung Ankaras durch Länder wie Frankreich und Deutschland hat die EU unmissverständlich klargemacht, dass die Türkei ihren Mitgliedsantrag vergessen kann. Ausgerechnet in einer Zeit, in der die Türkei mit ihrer Verbindung aus westlich-demokratischer Staatsordnung und muslimischer Bevölkerung angesichts der Umbrüche im Nahen Osten neue Bedeutung erhält, haben sich die Europäer damit selbst um viele Einflussmöglichkeiten gebracht. Entgegen der viel beschworenen Klage über eine geopolitische Achsenverschiebung in Ankara hat sich Europa von der Türkei abgewandt, nicht die Türkei von Europa. Warum sollte eine türkische Regierung heute noch auf Reformforderungen aus Brüssel hören?

Ohne Druck und Anreize der EU wird die Reformarbeit den türkischen Politikern noch mehr abverlangen als vor zehn Jahren. Ob Erdogan, die AKP und die Opposition in Ankara die Kraft dazu aufbringen werden, ist unsicher. Aber ohne eine rasche Justizreform wird die Demokratie in der Türkei im Jahr 2012 schwächer werden, nicht stärker.

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