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Eingepackte Trauma-Keule: Deutsches Mitgefühl für Japan und Libyen

Aus "German Angst" wird ein ein Stück "German Hoffnung" und Trost: Die Deutschen schauen voller Empathie auf Libyen und Japan.

Wenn wir Deutschen, was uns gerne unterstellt wird, Weltmeister im Nabelschauen sind, dann wird es höchste Zeit, dass wir uns dazu auch bekennen.

Libyen ist geografisch weit weg, Japan noch weiter, dennoch hat uns die Omnipräsenz und Macht der Bilder in der vergangenen Woche echte Empathie beschert, ein aufrichtiges Mitgefühl, ja, Mitleiden. Es sage keiner, die Kinderkörper abtastenden Geigerzähler in Fukushima oder die die Welthilfe anrufenden Menschen in Bengasi rührten ihn nicht. So gesehen kennt Not auch keine Hierarchie, und bloß weil immer nur ein Thema die Breaking News der Nachrichtenkanäle beherrscht, vergisst sich alles andere nicht, jedenfalls nicht so schnell. Der Mensch ist ein Augentier, und seine Netzhaut hat ein Gedächtnis.

Die Frage ist, in aller Hilflosigkeit, welche Halbwertzeit unser medial geschürtes Mitgefühl hat, ja haben kann. Wie schnell es sich erschöpft, weil die Bilder sich notgedrungen gleichen und die Reize ihren Reiz verlieren. Dabei ist die Tatsache, dass wir diese Frage stellen, mit Inbrunst und Sorge, vielleicht schon das wichtigste Symptom.

Die Frage ist längst gültig beantwortet: seit der Antike – und mit der Erfindung des Theaters. Auf Furcht (Schaudern), Mitleid (Jammern) und Katharsis fußt die aristotelische Tragödientheorie. Shakespeare, Lessing, Wagner, Brecht und andere Klassiker mehr haben diesen Reinigungs- und Erkenntnisprozess durch die Jahrhunderte vorangetrieben. Wir zehren davon bis heute, und zwar gerade in der typisch deutschen, so furchtsam wie vorbildlich gepflegten Überzeugung, dass Kunst und Kultur die menschliche Existenz mit ausmachen, mit bedingen. Vorbildlich für den Rest der Welt, wie diese nicht müde wird zu betonen, und zwar ganz künstlerisch-praktisch, durch die schiere Anzahl der Schauspielhäuser, Orchester, Festivals und Abonnements.

Die deutsche Theaterlandschaft ist das Angebot, sich in Affekten zu üben, im unvorstellbaren Grauen wie im größten (un-)möglichen Glück, in Lust und Leid, in Begierde, Zorn, Neid, Freude, Mut, Liebe, Hass, Sehnsucht oder Eifersucht. Auf dass wir, wenn es ernst wird, wissen, was wir schon einmal gedacht und gefühlt haben. Auf dass uns das Zuhören und Zusehen nicht gleich wieder vergeht. „Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht“ nennt Aristoteles diese einmalige Bildungschance. Der Opernregisseur Peter Konwitschny formuliert das drastischer: Im Theater könne man lernen, wie weh es tut, dem anderen den Stiefel ins Gesicht zu drücken. Das lateinische Wort affectus geht ethymologisch übrigens auf das griechische páthos zurück.

Dabei sind Realität und Kunst keinesfalls miteinander zu verwechseln. Durch unsere latente postbürgerliche Kulturbeflissenheit und Tradition wird die Strahlenbelastung im Nordosten Japans um kein einziges Becquerel gesenkt und ein Irrer wie Muammar al Gaddafi sicher nicht zur Räson gebracht. Die German Angst aber, unser ach so hysterisch-grüblerisches Wesen, das alles notorisch und zuallererst auf sich selbst bezieht, jener uns spätestens seit 1945 ein- und angeborene Schuldreflex „Was bedeutet das für uns?“, er könnte sehr wohl ein Beispiel geben, ganz unmessianisch und unarrogant und altruistisch. Ein Beispiel für mehr Aufrichtigkeit und Demut, mehr Eigenverantwortung und geistige Nachhaltigkeit.

Denn viel kann er nicht tun, wenn er ehrlich ist, der Mensch, der sich von den aktuellen Katastrophen nicht unmittelbar betroffen sieht. Nicht mehr als sich den Bildern aussetzen, sein Beileid bekunden, Geld spenden, mit den Achseln zucken, still verzweifeln. Oder eben vor der eigenen Türe kehren. Entweder die Welt ist ein globales Dorf oder sie ist es nicht. Und wenn sie es ist, dann muss sich jeder darin wichtig nehmen. Dann spielt es eine Rolle, ob das „kleine“ Deutschland – immerhin die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Erde – sich im UN-Sicherheitsrat enthält oder nicht; dann heißt es etwas, jenseits aller wahlkämpferischen Stielaugen und parteipolitischen Ranküne, wenn Angela Merkel auf Knopfdruck ihre Atompolitik ändert. Vielleicht, so der französische Ex-Manager Daniel Goeudevert bei „Anne Will“, hat sie als promovierte Physikerin auf eine solche Gelegenheit ja nur gewartet.

Vom Mythos der German Angst – und das ist aufschlussreich – war zuletzt vor zwei, drei Jahren die Rede, im Zuge der aufflammenden Finanzkrise. Man zitierte die üblichen Verdächtigen wie Thomas Wolfe („seelische Fäulnis“, 1940) und Curzio Malaparte („der weiße Flecken der Angst“, 1944), freute sich an 65 Jahren Frieden und kürte mit Waldsterben, BSE, Vogelgrippe, Aids, Reformstau, Klimawandel, Irakkrieg, Afghanistan und der Fußball-WM im eigenen Land potenzielle andere „Angstgebiete“. Und diagnostizierte am Ende eine neue German Lässigkeit: „Wunden heilten, Grenzen wurden für endgültig erklärt, Einigkeit erzielt, Ängste zerstreut. Im aufrechten Gang atmen die Deutschen leichter. Sie sind stolzer, lockerer. Solche Veränderungen bilden sich nicht so leicht wieder zurück“, orakelte Roger Cohen im Dezember 2009. Der Deutsche fremdelte, sein Wahn, „etwas Besonderes sein zu wollen oder zu müssen“ (Ulrich Greiner), zerrann mit der Erkenntnis, dass die globalen Märkte solche Sperenzien nicht dulden.

Und jetzt: Doch wieder alles auf Anfang? Lasst die globale Bedrohung nur fürchterlich genug sein, und flugs packen wir unsere alte Trauma-Keule wieder aus? Das hieße, wir sehnten uns das ultimative libysche Bodengemetzel, den japanischen Super-GAU regelrecht herbei, denn nur so lernten wir und träfen existenzielle Entscheidungen und kämen zu uns selbst. Das Gegenteil ist der Fall, das erleben wir gerade und insofern ist die German Angst ein Stück German Hoffnung und Trost und wird uns nie ganz verlassen. Sich selbst ins Verhältnis zu setzen zur Realität, zu einem Menschen, einem Kunstgeschehen, heißt nicht, dem anderen die Empathie zu versagen. Es heißt, keine Angst mehr vor der eigenen Angst zu haben. Bereit zu sein für die Konsequenzen, mit Hirn und Herz und Hand.

„Und es mag am deutschen Wesen / Einmal noch die Welt genesen“, dichtete der Pfarrerssohn Emanuel Geibel 1861. Berüchtigte Verse, politisch absolut unkorrekt. Wieso eigentlich? Das Adjektiv „deutsch“ darf gerne durch jedes x- beliebige andere ersetzt werden.

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