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Barbara John war Ausländerbeauftragte des Landes Berlin. Sie ist Kolumnistin des Tagesspiegels und wurde zur Ombudsfrau für die Opfer der Zwickauer Neonazi-Zelle berufen.

© dpa

Ein Zwischenruf: Kindheitserfahrungen

Alte und neue Nazis haben nur so viel Spielraum, wie ihnen von verantwortlich handelnden Bürgern gelassen wird: Im besten Fall also null.

Die Bundespräsidenten-Wahl vor einer Woche interessierte mich als Ereignis nicht mehr. Die Luft war ja völlig raus nach all den quälenden Vorgeschichten und parteipolitischen Festlegungen. Doch da gab es noch Beate Klarsfeld, erfolglose Kandidatin der Linkspartei, bei der mir plötzlich biografische Parallelen ins Auge sprangen. Beide sind wir Kriegskinder, in Berlin geboren, fast gleichaltrig. Zu unseren Kindheitserfahrungen gehörten auch die Väter, die vor Beginn des Zweiten Weltkrieges eingezogen wurden, die in Berlin ausgebombten Wohnungen, die lebensrettende Übersiedlung zu Verwandten im damaligen Schlesien. Dann als Heranwachsende so früh wie möglich ins Ausland. Sie als Au-pair-Mädchen nach Paris, ich als Tramp in viele europäische Länder. Später kamen Aufgaben, die für beide lebensbestimmend wurden. Da reizte mich die Frage, ob es, trotz aller beruflichen und persönlichen Unterschiede, auch einen gemeinsamen „roten Faden“ im Leben geben könnte.

Den habe ich dann doch nicht entdeckt, aber einen wahrscheinlichen gemeinsamen Ausgangspunkt, nämlich den Willen, in einer besseren Welt leben zu wollen. Frau Klarsfeld blickte zurück im Zorn, ich wohl eher nach vorn. Sie hatte viel früher als ich ihre Lebensaufgabe gefunden und schlagartig öffentliche Bekanntheit erlangt, als sie im November 1968, 29-jährig, den damaligen Bundeskanzler Kiesinger auf einem CDU-Parteitag in Berlin ohrfeigte, laut „Nazi, Nazi“ rufend. Alt-Nazis identifizieren, anprangern und hinter Gitter bringen, das wurde ihr Lebenswerk. Ihr mit vielen persönlichen Opfern verbundener Kampf gegen weißgewaschene Braunhemden weltweit (die DDR blendete sie total aus), war dennoch richtig und couragiert.

Ich studierte zu dieser Zeit in London, wo ich konfrontiert wurde mit den Schmerzen und Widersprüchen einer multiethnischen, postkolonialen Gesellschaft. Die gibt es nun auch in Deutschland und bald weltweit als Standardmodell des 21. Jahrhunderts. Ein wahrer Gräuel für Rechtsorientierte. Aber alte und neue Nazis haben nur so viel Spielraum, wie ihnen von verantwortlich handelnden Bürgern gelassen wird, im Einsatz für eine offene Gesellschaft. Im besten Fall also null. Deshalb kommt es heute mehr denn je auf sie an.

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