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Meinung: Ende der staatlich verordneten Toleranz

Nach den Morden: Die Niederländer reden offener über die Einwanderung

Mit seiner Verurteilung ist das Problem noch lange nicht gelöst. Seit Mohammed B. im vergangenen November den provokanten Filmemacher Theo van Gogh mit gezielten Schüssen und unzähligen Messerstichen auf offener Straße hingerichtet hat, befinden sich die Niederlande in einer Identitätskrise. Die wird durch den Prozess gegen B., der heute in Amsterdam beginnt, vielleicht sogar noch verstärkt.

Die viel gerühmte Toleranz entpuppt sich plötzlich als gefährliche Lebenslüge, als staatlich verordnet und oberflächlich. Wörter wie „Ausländer“ oder „Gastarbeiter“ waren über Jahrzehnte hinweg verpönt, sie galten als politisch nicht korrekt. „Weil den Menschen über Jahrzehnte hinweg der Mund verboten wurde, waren solche extremen Ausbrüche wie von Theo van Gogh überhaupt erst möglich“, sagt der Soziologe Meinert Fennema, der an der Amsterdamer Universität den Zusammenhang zwischen Rechtsextremismus, Islamismus und Gewaltbereitschaft erforscht.

Der „Heilige Krieg“, zu dem der Extremist aus Marokko, der in den Niederlanden aufgewachsen ist und sogar die niederländische Staatsbürgerschaft besitzt, aufgerufen hat, ist nicht ausgebrochen. Doch das gesellschaftliche Klima des Landes hat sich dramatisch verändert: Seit den Morden an van Gogh und, zwei Jahre zuvor, an dem rechtspopulistischen Politiker Pym Fortuyn sprechen die Niederländer offen über ihre Ängste – weil die Gewalt zu offensichtlich geworden ist. Die liberale Einwanderungspolitik, lange ein Tabu, steht plötzlich zur Debatte. Der Rechtspopulist Geert Wilders, der sich als Nachfolger Fortuyns sieht, bekommt immer mehr Zulauf, und auch die Regierung von Jan Peter Balkenende verschärfte die Einwanderungsbedingungen. Seit einigen Monaten müssen diejenigen, die in die Niederlande auswandern wollen, einen Integrationstest in ihrem Heimatland absolvieren.

„Handeln in Angst“ nennt der Publizist Geert Mak diese Politik, die zu einer „heillosen Polarisierung“ geführt habe. Immerhin hat es in den Wochen nach dem Mord an van Gogh auch 174 Gewalttaten gegen muslimische Schulen und Moscheen gegeben.

Zugleich wird immer deutlicher, dass Mohammed B. kein Einzeltäter war. Er soll Mitglied der muslimischen Terrorgruppe „Hofstadgroep“ sein. Bei Mitgliedern der Gruppe waren Filme von Abschlachtungen und Anleitungen für Enthauptungen gefunden worden. Wie real die Bedrohung ist, zeigen die Morddrohungen gegen die liberale Politikerin Ayaan Hirsi Ali, die das Drehbuch zu van Goghs Film geschrieben hat. Sie ist untergetaucht – aus Angst vor einem neuen Mordanschlag in den Niederlanden.

Ruth Reichstein

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