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Meinung: Ende gut, alles gut?

Die neue Regierung hat Erfolg – 2006 entscheidet sich ihr Schicksal Von Hans-Dietrich Genscher

Die schwarz-rote Bundesregierung findet sich in einem Wechselbad der Gefühle. War zuerst die Rede davon, der Anfang stehe unter keinem guten Stern, so ist jetzt überall berechtigte Anerkennung für die Haltung der Bundesregierung im Europäischen Rat und für die Lösung des Geiselproblems im Irak zu hören. Manchen Stellungnahmen ist auch ein „Glück gehabt“ zu entnehmen. Ist das wirklich so?

Ohne Zweifel ist das Geiseldrama verantwortungsvoll gehandhabt und zu einem guten Ende gebracht worden. Wieder einmal wurden die Professionalität und nicht minder die Einsatzbereitschaft der Angehörigen des Auswärtigen Dienstes unter Beweis gestellt. Daran zu erinnern, ist dringend geboten angesichts manch oberflächlicher Kritik an „den Beamten“ oder den Mitarbeitern des Auswärtigen Dienstes. Erinnert werden muss aber auch an die Notwendigkeit, den Warnungen des Auswärtigen Amtes vor Reisen in gefährdete Gebiete größere Beachtung zu schenken. Außenminister Steinmeier hat, gestützt auf den erfahrenen Staatssekretär Scharioth, die Bemühungen um die Freilassung der Geiseln mit großer persönlicher Zurückhaltung in der Öffentlichkeit umsichtig geleitet. Die Unterstützung durch viele Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, durch islamische Bürger in unserem Land und durch Hilfsorganisationen war eindrucksvoll. Das mindert in keiner Weise die Leistung der Bundeskanzlerin und des Außenministers, vor allem was ihre Festigkeit in der Sache, die Intensität der Bemühungen und die ruhige Hand bei der öffentlichen Behandlung des Falles angeht.

Im Europäischen Rat ging es um die Frage, ob die Unterbrechung des Verfassungsprozesses in den Mitgliedstaaten gefolgt sein würde von einem Stillstand der Entscheidungsprozesse über den Haushalt der Union für die nächsten Jahre. Wieder einmal hat sich die Vitalität des europäischen Vereinigungsprozesses bewährt. Die Karawane zieht weiter, und die Endzeitpropheten des europäischen Einigungsprozesses stehen, wie schon so oft, rat- und mutlos am Wegesrande. Wieder einmal hat sich auch erwiesen, dass es beim Fortgang der europäischen Einigung entscheidend auf die deutsche Haltung ankommt. Hier kann mit guten Gründen festgestellt werden, dass die Bundeskanzlerin mit großem Engagement den Weg für eine Einigung geebnet hat, nachdem die Hauptkontrahenten des Streits scheinbar unbeweglich einander gegenüberstanden. Die Bundesregierung hat bei diesem Europäischen Rat an die große Tradition deutscher Europapolitik angeknüpft. Ihr ist deshalb zu Recht auch die Anerkennung der Opposition nicht versagt geblieben.

Ende gut, alles gut? Das wäre verfrüht. Dennoch geht die Bundesregierung mit Rückenwind ins neue Jahr. Aber im nächsten Jahr wird sich das Schicksal der schwarz-roten Koalition entscheiden. Das ist bedeutsam für das ganze Land. Es geht um Grundsatzfragen in Wirtschafts-, Sozial-, Steuer- und Finanzpolitik. Hier ist Klarheit gefragt und zwar schnell. Klarheit ist auch notwendig für die Zukunft unserer Bundeswehr. Der neue Verteidigungsminister hat zu einigen Punkten dankenswerterweise schon Festlegungen getroffen. Geboten ist auch Eindeutigkeit in Grundsatzfragen des liberalen Rechtsstaates.

Die Opposition – es ist hier nicht von der Opposition die Rede, deren Verhalten durch die Enttäuschung über das Ausscheiden aus der alten Koalition bestimmt ist, auch nicht von der Opposition, die sich im Grunde nicht als bessere Alternative, sondern als Fundamentalopposition versteht - die Opposition also hat verantwortungsvoll auf die Ergebnisse des Europäischen Rats und auch auf den Erfolg der Bundesregierung bei dem Ringen um die Freilassung der Geiseln reagiert. Das wird ihren Argumenten und ihren Forderungen nach Durchsetzung der großen Reformvorhaben noch größeres Gewicht verleihen. Die Bundeskanzlerin ist Realistin genug, das zu wissen.

Der Autor war von 1974 bis 1992 Außenminister.

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