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Die Scheiben haben Randalierer in England Offline eingeschmissen. Verabredet haben sie sich allerdings häufig per Facebook und Twitter. Premier Cameron will die Dienste nun einschränken.

© Reuters

England-Krawalle: Cameron hat kein digitales Problem, sondern ein soziales

Krawallmachern Twitter wegnehmen, Blackberry-Dienste sperren: Der britische Premier Cameron macht absurde Vorschläge – doch die Reaktionen sind ebenso absurd.

Es ist ein Reflex: Ein Premierminister versteigt sich dazu, das Internet (diesmal speziell soziale Netzwerke und Instant Messaging) kontrollieren und nötigenfalls abschalten zu wollen, um Straftaten zu verhindern. Sogleich rufen Internet-Versteher: Zensur, Angriff auf die Meinungsfreiheit, chinesische Methoden, arabisch-despotische Zustände!

Reflexe sind wichtig. Manchmal allerdings führen sie nicht weiter.

Natürlich ist der Vorschlag des britischen Premierministers David Cameron absurd, Krawallmacher aus sozialen Netzwerken wie Twitter und Facebook auszuschließen oder Dienste wie den Blackberry Messenger abzuschalten. Über diese Medien hatten Jugendliche in den vergangenen Tagen ihre Plünder- und Gewaltorgien organisiert.

Sicherheitspolitiker reagieren jedes Mal so, wenn sie auf neue Techniken stoßen. Innenminister Wolfgang Schäuble wollte potenziellen "Gefährdern" das Handy verbieten; Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy will illegale Downloads damit bekämpfen, dass er den Tätern den Netzzugang blockiert.

Solche Vorschläge sind falsch und dumm. Falsch, weil sie wichtige Freiheitsrechte einschränken. Dumm, weil sie das Problem nicht lösen. Wem das Handy genommen wird, der borgt sich eben das des Kumpels. Wem der Internetzugang verboten wird, der geht halt zum Nachbarn. Wer aus Twitter oder Facebook ausgeschlossen wird, meldet sich neu an. Wem das Blackberry-Netz abgeschaltet wird, der muss nur auf den Aufschrei aller Banker hoffen, die mit dem Gerät arbeiten. Selbst wenn es möglich wäre, die elektronischen Kommunikationswege unliebsamer Leute zu blockieren: Die Aufstände in der arabischen Welt haben bewiesen, dass auch die Beschränkung der sozialen Netzwerke Aktivisten nicht aufhält, wenn sie denn wirklich ein Ziel vor Augen haben (was man bei den britischen Randalierern allerdings bezweifeln darf).

Digitale und reale Gesellschaft sind inzwischen stark verschmolzen. Lesen Sie weiter auf Seite 2.

Doch der Reflex, solcherlei Vorschläge sogleich mit Vergleichen zu diktatorischen Regimen abzutun, geht ebenso ins Leere. Niemand kann ernsthaft glauben, dass sich Cameron für sein Land chinesische Zustände wünscht. Vielmehr drückt sich in der Forderung des Premiers vor allem Wachstumsschmerz aus. Wenn den wilden Tagen in Großbritannien irgendetwas Gutes abzulesen sein sollte, dann dies: Noch nie wurde uns in einem solchen Umfang vor Augen geführt, wie stark digitale und reale Gesellschaft inzwischen verschmolzen sind.

Denn was sehen wir in England: Randalierende Jugendliche verabreden sich via Blackberry. Aber auch: Aufrechte Bürger organisieren via Twitter und Facebook Aufräumaktionen und Wohngelegenheiten für obdachlos gewordene Mitmenschen. Der Live-Blog eines Studenten wird zur wichtigen Nachrichtenquelle. Die Polizei informiert Bürger via Twitter über das Geschehen und nutzt den gleichen Kanal, um Zeugen für Straftaten zu finden.

Das Netz und die Welt, das ist eins. Selten sah man es so überdeutlich. Diese Entwicklung aber schmerzt. Weil sie alte Strukturen und Geografien aufbricht. Weil sie die Geschwindigkeit des Geschehens und Erlebens erhöht. Diesen Wandel muss man erkennen, verstehen und lernen, wie das Neue funktioniert. Da kommt eben nicht jeder gleich schnell mit.

Dabei zeigt sich, dass gerade durch das Verschmelzen der digitalen und der realen Zone erprobte Handlungs- und Erfahrungsmuster wieder greifen. Wer zu Straftaten aufruft, wird verfolgt, egal, ob er das via Flugblatt oder Tweet tut. Wer in einem öffentlichen Prozess verurteilt wird, muss damit rechnen, dass sein Name publiziert wird, ob in der Zeitung oder via Twitter. Wer dabei gesehen wird, dass er in ein Geschäft einbricht, muss damit leben, dass Zeugen ihn identifizieren, ob sie nun ein Phantombild am Postschalter sehen oder ein Foto auf Flickr.

Weshalb der richtige Reflex auf Camerons Vorstoß wäre, ihm nicht zu erlauben, dem wahren Problem auszuweichen, indem er das Netz angreift. Die Antwort auf seinen Twitter-Blackberry-Verbotsvorschlag muss lauten: Herr Premierminister, Sie haben kein digitales Problem, sondern ein soziales! Wenn Sie Gewaltausbrüche wie die der vergangenen Tage verhindern wollen, müssen Sie Antworten darauf finden, wie Sie die zornigen und teilweise abgehängten jungen Menschen wieder in die britische Gesellschaft integrieren. Vielleicht kann dann auch das Internet zum Werkzeug werden, mit dem gute Ideen umzusetzen sind.

Der Text wurde übernommen vom Tagesspiegel-Kooperationspartner Zeit Online.

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