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Kann sich jemand Berlin noch ohne Regierungsviertel vorstellen?

© Doris Spiekermann-Klaas

Entscheidung für die neue Hauptstadt: Die zweite Geburt für Berlin

Der Beschluss, mit dem Berlin vor zwanzig Jahren zum Regierungssitz wurde, war herausragend. Er markiert den Beginn des Zusammenwachsens der Stadt - und hat noch einiges mehr bewirkt.

Selten hing eine Entscheidung derart an einem seidenen Faden. Zwar finden sich in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik auch andere knappe Entscheidungen – eine Stimme brachte 1949 Adenauer ins Kanzleramt, zwei Stimmen durchkreuzten 1972 das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt. Doch der Beschluss, mit dem Berlin fast auf den Tag genau vor zwanzig Jahren zum Regierungssitz wurde, ragt heraus. Nicht nur waren es schließlich ganze sieben Stimmen, die den Ausschlag gaben, also nicht einmal ein Prozent der 66o Abgeordneten des Bundestags. Die Entscheidung ging auch so quer durch die Parteien und Fronten, dass man nicht umhinkann, sie als Zufall zu werten. Der Bonner Korrespondent dieser Zeitung lag mit seiner Ahnung richtig: Der lange Hauptstadtstreit, so schrieb er resignierend im Leitartikel vor der Abstimmung, ende nun doch mit einem „Elfmeterschießen“.

Doch kaum zuvor hat es auch eine Entscheidung gegeben, die so Weichenstellung war wie diese. Natürlich weiß niemand, wie es mit Berlin weitergegangen wäre, wenn Bonn das halbe Dutzend Stimmen bekommen hätte, das ihm zum Sieg fehlte. Aber sicher ist, dass es ohne sie das Berlin von heute nicht gäbe. Gewiss begann Berlins Nachwende-Zukunft mit dem Mauerfall. Aber erst mit diesem Juniabend im diesigen Rheintal setzte wirklich ein, was seither der Entwicklung der Stadt die Richtung gibt.

Denn was hätte der Wiederherstellung der Stadt ähnlich starke Impulse gegeben wie die Hauptstadtentscheidung? Kann man sich das neue Berlin denken ohne das Regierungsviertel mit der Reichstagskuppel, dem neuen Wahrzeichen der Stadt, ohne die Aktivität des politischen Betriebs und die Ausstrahlung, die es seiner Rolle als politisches Zentrum der Bundesrepublik verdankt?

Man muss sich erinnern, wie knapp die Hauptstadtentscheidung ausfiel, um ins Staunen über das zu verfallen, was sie bewirkt hat. Allein der Umstand, dass sich niemand mehr vorstellen kann, dass sie anders ausgefallen wäre, lässt erkennen, wie sehr dieser Beschluss in den Bestand der Bundesrepublik eingegangen ist. Dass Berlin als Hauptstadt heute unangefochten ist, zeigt die Zustimmung an, die ihm im Laufe der Jahre im kollektiven Bewusstsein der Bundesrepublik zugewachsen ist. Was Zufall war, hat den Zuschlag der Geschichte erhalten.

Am massivsten abzulesen ist dieser Wandel, den sich vor zwanzig Jahren niemand hat ausdenken können, am Schicksal der alten Regierungsstadt. Bis zum 2o. Juni 1991 der Inbegriff der Politik in der Bundesrepublik, ist Bonn seither als politische Größe vollendete Vergangenheit geworden. Es bedarf der sich mit schöner Regelmäßigkeit wiederholenden Forderung nach dem Umzug aller Ministerien nach Berlin, um in Erinnerung zu rufen, dass Bonn auch noch politische Gegenwart ist – mit fast so vielen Beamten wie Berlin, diversen Ministerien und Bundesbehörden. Aber das ändert nichts daran, dass die Entscheidung für Berlin die Koordinaten des politischen Deutschlands verschoben hat. Sie hat seine Wirklichkeit in einer Weise neu fixiert, die über die damaligen Beschlüsse weit hinausgeht. Die betrafen den Umzug des Bundestages und die Verteilung der Regierungsfunktionen. Daraus entstanden ist ein anderes Bild des Landes.

Wie sich das Profil Deutschlands durch den Umzug änderte, lesen Sie auf der nächsten Seite

Hermann Rudolph
Hermann Rudolph

© Doris Spiekermann-Klaas

Ist es die Berliner Republik, über die damals und danach, beim Umzug im Jahre 1999, so heftig gestritten worden ist? Es ist wohl eher das definitive Ende der Auseinandersetzung, in dem um die Bestimmung der Republik gerungen wurde. Es ist wahr – und man sollte es nicht kleinreden –, dass an diesem 20. Juni zwei Möglichkeiten der Republik auf der Waage lagen. Denn es bedeutete schon etwas, ob ihre politischen Kraftlinien in Berlin oder Bonn zusammengebunden sind. Es änderte zwar nicht die Republik, aber das Profil, mit dem sie sich darstellt – nach innen und nach außen. Weshalb der Hauptstadtbeschluss keine Berliner Republik geschaffen hat, aber einen Staat, der in Berlin seinen politischen Schauplatz gefunden hat und vielleicht sogar mehr.

Was ist dabei herausgekommen? Ist die Bundesrepublik hektischer geworden, unsicherer, aber, vielleicht, auch beweglicher, aufgeschlossener und offener? Unumstritten sind die historischen Dimensionen. Mit der Entscheidung für Berlin hat Deutschland, das nach Fläche, Bevölkerung und Leistungsfähigkeit seinen Schwerpunkt in der alten Bundesrepublik hat, den Kopf ein Stück weit nach Osten gewendet. Und: Der Umzug in die alte Hauptstadt hat das neue, größere Deutschland in die Fluchtlinien des alten gerückt, das untergegangen schien, aber doch ein halbes Jahrhundert lang als fast verlorener Schatten mit den beiden deutschen Staaten mitgewandert ist. Das wäre von Bonn aus nicht möglich gewesen.

Umso erstaunlicher erscheint im Rückblick dieser Kampf um Berlin, der vor zwei Jahrzehnten in den Hauptstadt-Beschluss mündete. Zu Recht wurde die Abstimmungsdebatte-Debatte als Sternstunde des Parlamentarismus empfunden. Fast zwölf Stunden Dauer, 106 Redner, dazu fast ebenso viele, die ihr Reden zu Protokoll gaben, 653 Seiten im Bundestagsprotokoll. So leidenschaftlich und fair sind im deutschen Bundestag selten unterschiedliche, ja gegensätzliche Überzeugungen ausgetauscht worden. Doch in der Perspektive der vergangenen zwanzig Jahre erscheint diese Stunde der Wahrheit im Bonner Wasserwerk teilweise wie eine Geisterstunde. Und war die vielgelobte Sternstunde nicht doch eher ein Feuerwerk, das für einen Moment das Panorama deutscher Ängste und Fixierungen bengalisch beleuchtete?

Kaum etwas von den Erwartungen und Befürchtungen, die die Republik damals erhitzten, ist ja eingetreten. Ein neuer preußisch-deutschen Zentralismus, wie ihn manche Berlin-Gegner sahen? Der Föderalismus blüht, bis an den Rand des Partikularismus. Die Mega-Stadt, die damals an die Mauern des Bonner Wasserwerks gemalt wurde – bis zu sechs Millionen Einwohner, die größte Industriestadt zwischen Atlantik und Ural? Stattdessen: stagnierende Bevölkerung und eine lahmende Wirtschaft. Und die bange Frage, ob denn ein Umzug nach Berlin nicht die außenpolitische Grundentscheidung der Nachkriegszeit bedrohen werde, löste sich auf, weniger in Wohlgefallen als in Routine, sobald er vollzogen war.

Allerdings hat die Entscheidung auch nicht die Erwartungen eingelöst, die viele auf eine Hauptstadt Berlin setzten. Man kann ja nicht ernsthaft sagen, dass die Politik in Berlin anders, nämlich großzügiger, problembewusster und schwungvoller geworden wäre, dass sie also, wie viele es sich erhofften, ihr Bonner Erbe, ihre Enge und Furchtsamkeit abgeschüttelt hätte. Auch der Gedanke, Berlins Nähe zu den neuen Ländern werde dazu beitragen, die deutsch-deutschen Ungleichgewichte abzutragen, hat sehr weit getragen. Und der ehrgeizige, hyperföderale Versuch, die Bundesrepublik von Berlin und von Bonn aus zu regieren, ist, nimmt man die Dinge, wie sie geworden sind, gescheitert. Mittlerweile sind die Mehrheiten in den Umfragen stabil gegen die Aufteilung der Regierung, und wenn Nordrhein-Westfalen an ihr festhält, dann nicht aus tieferer Überzeugung, sondern aus Gründen der Besitzstandswahrung.

Was war also diese Auseinandersetzung, die Züge eines „Glaubenskriegs“ (Klaus von Beyme) annahm, während sie andererseits geführt wurde wie der Wettbewerb zweier Städte um eine Bundesgartenschau? Was zwang auch illustren Köpfen reihenweise Offenbarungseide ab? Die Vergangenheit der Stadt sei für eine Hauptstadt „zu trübe“ (Golo Mann), ihre Wahl ein „falsches Signal“, weil es die Deutschen verführen könne, sich auf den „Nationalstaat“ statt auf „Europa“ zu orientieren (Marion Gräfin Dönhoff) und das Urteil, dass sie keine „Stadt des Westens“ sei (Klaus Harpprecht), gab ihrer Hauptstadt-Eignung den Rest. Während die Berlin-Gegner Bonn eine späte, überraschende Erhöhung zuteilwerden ließen. Über die Jahrzehnte hinweg hochmütig belächelt als das reaktionär-schwüle „Treibhaus“ (im Nachkriegsroman von Wolfgang Koeppen), dann abfällig als „Bundesdorf“, dann als die „Raumkapsel“, die die Politik den Menschen entfremdete, avancierte die kleine Stadt nun zum „Sinnbild deutscher Demokratie“, zum Eckstein von Föderalismus und West-Bindung.

Wie der Hauptstadtstatus Berlin rettete, erfahren Sie auf der nächsten Seite.

Wahrscheinlich war diese Debatte eine Art Endspiel des deutschen Vereinigungsprozesses, und der Redemarathon in dem zum Parlament umfunktionierten alten Bonner Wasserwerk war ein letztes Gefecht, in dem noch einmal die Symbol- und Reizfiguren der jüngeren deutschen Geschichte zutage traten. Nicht zuletzt offenbarte sich damals die Unsicherheit gegenüber dem Nationalstaat, vor dessen Wiedererstehen vor allem das intellektuelle Deutschland zitterte. Es stand, wie der Historiker Christian Meier spottete, „auf dem Anstand“ und wartete, „dass der deutsche Nationalismus an der Lichtung erscheint“. Und ist die These so weit hergeholt, dass sich im Widerstand gegen die Hauptstadt Berlin die alte Bundesrepublik selbst verteidigte? Im Plädoyer für Bonn steckte der Wunsch, das zu bleiben, was sie geworden war.

Berlin wurde übrigens von dem Ausgang der Entscheidung fast noch mehr überrascht als Bonn, der Uns-kann-keiner-Selbstsicherheit zum Trotz, für die die Stadt berüchtigt ist. Sie hatte den Streit mit steigender Verwunderung und hinhaltender Vertrotztheit begleitet. Dass Berlin wieder Hauptstadt werden müsse, galt den meisten für so selbstverständlich, dass man sich kaum dazu durchdringen konnte, das Ringen darum mit einer Mobilmachung der Kräfte der Stadt zu begleiten. Abgesehen von zwei bürgerschaftlichen Initiativen, führte die politische Klasse, in erster Linie der Senat, die Auseinandersetzung. Anders als in Bonn gab es keine Demonstrationen und Menschenketten. Dafür machte sich je später, desto mehr ein Gefühl der Resignation breit. Die Klausurtagung des Senats am letzten Wochenende vor der Abstimmung galt nicht der Hauptstadt-Entscheidung, sondern den Problemen des Haushalts.

Anders als in Bonn waren auch keine Siegesfeiern geplant, nur der SFB hatte für den Abend eingeladen. Die Nachricht von der Entscheidung wurde, wie es in der Meldung dieser Zeitung hieß, „mit zunächst verhaltener Freude“ aufgenommen. Tatsächlich brauchte man in Berlin einige Zeit, bis man begriff, was geschehen war. Schließlich ordnete der Chef der Senatskanzlei an, die Freiheitsglocke im Schöneberger Rathaus zu läuten. Und auch der Jubel und die Hupkonzerte, zu denen es später am Kurfürstendamm kam, hielten sich in Grenzen.

Vergegenwärtigt man sich, was für Berlin auf dem Spiel stand, so fügt das den Merkwürdigkeiten dieser Auseinandersetzung eine weitere hinzu. Vielleicht kann man sagen, dass Berlin im Hauptstadtstreit jenem Reiter über den Bodensee glich, der, nach der von Gustav Schwab bedichteten Sage, erst am Ufer begreift, dass er über einen zugefrorenen See geritten ist. Denn es liegt auf der Hand, dass die Stadt damals haarscharf an einem Desaster vorbeigegangen ist. Ohne die Hauptstadt hätte sich Berlin kaum in den Krisen und Auseinandersetzungen behaupten können, die in den nächsten ein, zwei Jahrzehnten auf die Stadt warteten. Der Regierungssitz war vielleicht tatsächlich, wie Wolf Jobst Siedler spottete , der „Rettungsring“, der ihr zugeworfen wurde.

Hier endet die Parallele: Der Reiter über den Bodensee fiel vor Schreck tot vom Pferd, als ihm klar wurde, was für eine Gefahr er überstanden hatte. Für Berlin begann ein Abenteuer, wie es noch keine Stadt erlebt hat: das Zusammenwachsen nach über 40 Jahren Teilung, ja, ihre Wiederbegründung, in der sich zugleich die Wiedervereinigung des ganzen Landes spiegelt. Für die Stadt, die im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert zur deutschen Metropole herangewachsen war, ereignete sich nach Krieg, Zerstörung und Teilung nichts Geringeres als eine zweite Geburt.

Der Autor war Chefredakteur und ist heute Herausgeber des Tagesspiegel.

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