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Meinung: Erinnerung, sprich!

Roger Boyes, The Times

Es ist ein langes trauriges Jahr. Für viele ältere Deutsche das Jahr, in dem sie lernten wieder zu weinen. Der Jahrestagekult – vom DDay bis zur Kapitulation in Karlshorst – hat Erinnerungen ausgelöst, Familiengeheimnisse ausgegraben. Eine faszinierende Zeit für jeden Auslandskorrespondenten, zumal für einen wie mich mit einer Tendenz zum Voyeurismus, für einen Schlüsselloch-Reporter.

Da gab es Gunter, der mir erzählte, er hätte am Strand Durchfall bekommen, als die alliierten Soldaten landeten. Nicht nur aus Angst – das auch –, sondern weil er mit leerem Magen kalte Milch getrunken hatte, die ihm eine französische Bauersfrau gegeben hatte. Ursula beschrieb mir den Moment auf der „Wilhelm Gustloff“, als ihre Mutter den kleinen Bruder einem Matrosen in die Arme drückte – „Nimm ihn!“ –, gerade als das Boot zu sinken begann. Später suchte sie ihn in Rostock, doch als sie ihrem Ziel nahe kam, wurde sie aus dem Haus des Mannes geschmissen.

Es gibt den Schmerz und die verzerrten Erinnerungen von Frauen aus Dresden, die einen schwarzen Piloten vor Augen haben, der sie mit einem Maschinengewehr beschießt. Weder die Amerikaner noch die Briten hatten schwarze Piloten, die alliierten Luftwaffen waren dafür zu rassistisch, noch wurden laut den Historikern Tiefflieger eingesetzt. Woher kommt diese Erinnerung?

Die Tochter von Amon Goeth, des SS-Kommandanten des Lagers in Plaszow, erinnerte sich an den Geruch ihres Vaters und erklärte, wie kurz davor sie war, zum jüdischen Glauben überzutreten, als Ersatzfamilie. Es gab Bombenopfer und Vergewaltigte, die offenen Wunden der Vertriebenen.

Die Briten verstörte das deutsche Leid immer, als ob unglückliche Deutsche gefährlich unberechenbar seien. Aber es gibt keinen Anlass für Unruhe: Die Deutschen sehen sich weniger als Opfer denn als Überlebende. Das ist eine gesunde Entwicklung. Opfer wollen die Schuldfrage klären, schauen zurück. Überlebende wollen wissen, warum sie am Leben sind, blicken nach vorn. So war dieses Jahr des Kriegsgedenkens in Wahrheit ein Jahr der Heilung.

Oft verraten sich im Gespräch die überlebenden Polen, Juden, Deutsche. Nach außen ruhig, kratzen sie sich an den Ohren, zippeln an ihrem Handrücken. So lange hat es gedauert – und 60 Jahre sind eine lange Zeit –, bis sie ihr Trauma verstanden haben. Freud sagte, ein Trauma entsteht nicht durch ein schreckliches Ereignis an sich, sondern dadurch, dass es nicht erwartet wurde. Menschen entwickeln Ängste als Ausgleich für die mangelnde Bereitschaft im Moment des Desasters. Träume schützen sie vor zukünftigen Schocks.

Viel zu viele Deutsche, scheint mir, haben unter Albträumen gelitten. Es ist eine Nation, die heimgesucht wird. Deshalb ärgert es mich, wenn der deutsche Botschafter in London die britische Kriegsobsession kritisiert. Spricht man nicht über den Schmerz, dann eitert er. Seit einigen Jahren schreiben britische Autoren auf Deutsch für Deutsche über den Krieg – wohl wissend, dass der besondere deutsche Autismus in Sachen Krieg es unmöglich macht, direkt das Leid des Krieges anzusprechen. Die ehemalige Journalistin Patricia Clough schreibt über die Vertriebenen. Chris Catlin hat einen ausgezeichneten Roman („Brudersuche“, Verlag Landpresse) über die Suche nach dem toten Sohn – und nach einer deutschen Familiengeschichte – geschrieben. Das Buch, das auf Feldpostbriefen basiert, sollte jeder bewusste Deutsche lesen. Eine der Botschaften spricht mir aus dem Herzen: Die Körper von jungen Soldaten sollten nicht auf weit entfernten Militärfriedhöfen verrotten. Die Familien sollten sie zurückholen in ihre Dörfer und Städte. Krieg darf nicht zur Abstraktion werden, zu etwas Unangenehmem, das in fernen Ländern stattfindet. Krieg ist persönlich, sehr intim. In diesem Jahr haben die Deutschen den Charakter des Krieges etwas besser kennen gelernt. Der Weg ist noch lang.

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