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Meinung: Erste Pfiffe

Vor der Wahl in Russland ist die Machtelite ungewohnt nervös.

Der Überbringer schlechter Nachrichten wird bestraft – zumindest scheint das noch in Russland zu gelten. Die Wahlbeobachter der unabhängigen Organisation Golos haben sichtbar gemacht, wie „gelenkte Demokratie“ im Land Wladimir Putins funktioniert: Sie dokumentierten mehr als 4900 Verstöße gegen das Wahlrecht – von unzulässiger Werbung bis zum Stimmenkauf. Am Freitag wurde die Organisation wegen angeblicher Veröffentlichung von Umfragedaten kurz vor der Wahl zu einer Geldstrafe verurteilt. Das Vorgehen gegen die Beobachter zeigt die Nervosität der Machtelite in Moskau.

Doch warum sollte sie überhaupt nervös sein? Gilt es nicht bereits als ausgemacht, dass die Partei Einiges Russland die Parlamentswahl am Sonntag gewinnt? An einem Sieg der Kremlpartei zweifelt in der Tat niemand. Auf dem Spiel steht aber ihre Zweidrittelmehrheit. Wenn die Partei trotz aller Manipulationen diesmal deutlich schlechter abschneidet, beweist das aller Welt, dass die „gelenkte Demokratie“ brüchig wird.

Putin hat auch in seiner Zeit als Premier an seinem Image als Russlands starker Mann gearbeitet. Den Politiker, den er zum Statthalter im Kreml bestimmt hatte, demütigte er öffentlich: Dmitri Medwedew musste Putin selbst für das Präsidentenamt vorschlagen. In Moskau gilt der Noch-Präsident als zahnloser Tiger. Seine Anordnungen würden kaum noch umgesetzt, heißt es. Alle warten auf den neuen, alten Präsidenten Putin. Beim Parteikongress von Einiges Russland stimmten 100 Prozent für seine Kandidatur bei der Präsidentenwahl im März. Ist also alles wie immer in Putins Russland?

Mit Potemkin’schen Dörfern haben die Russen Erfahrung. Nach den Zaren nutzten auch sowjetische Machthaber gern die schöne Fassade, die für einen Moment eine perfekte Illusion schaffen sollte. Doch wenn der hohe Besuch wieder abgereist war, fiel das Potemkin’sche Dorf in sich zusammen. Zum Vorschein kam die trostlose Realität. Auch die von Putin und seinem Machtzirkel errichtete Fassade hat Risse bekommen – das zeigen zwei Begebenheiten aus den vergangenen Wochen. In einem Land, in dem Auftritte von Präsident und Premier einer strengen Choreografie unterliegen, wurde Putin kürzlich bei einer Kampfsportveranstaltung mit Pfiffen und Buhrufen begrüßt. Und bei seinem Besuch in der Duma verweigerten ihm Oppositionsabgeordnete den Respekt; sie blieben einfach sitzen. Beides hatte es in Putins Russland bisher nicht gegeben. Seine Umfragewerte sind so niedrig wie seit dem Untergang des U-Bootes Kursk vor elf Jahren nicht mehr.

Unklar ist jedoch, welcher Putin sichtbar wird und in welche Richtung er das Land führt, wenn sein Image weiterbröckelt. Wird es eine Kurskorrektur hin zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geben, ein Russland, das partnerschaftlich mit seinen Nachbarn zusammenarbeitet? Oder wird das Land noch stärker auf autoritäre Strukturen und Nationalismus setzen? Das erste Szenario erscheint leider mehr als unwahrscheinlich.

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