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Luftkampf im Ersten Weltkrieg.

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Erster Weltkrieg und die Moderne: „Ode an die Gewalt“

Rallyefahrer, Fahrradchampions und Piloten waren die Heroen der Moderne. Doch von der Mobilität zur Mobilmachung 1914 war der Weg in Europa nicht weit.

Das „lange 19. Jahrhundert“, das 1789 mit der Französischen Revolution so verheißungsvoll begonnen hatte, ging im Sommer 1914 unwiderruflich zu Ende. Die letzten Jahre vor dem Kriegsausbruch waren eine Zeit des Aufbruchs, aber auch des Umbruchs gewesen. Sie waren gekennzeichnet durch politische Krisen, begrenzte militärische Konflikte in den verschiedensten Regionen der Welt, eine massive koloniale Expansion der europäischen Großmächte. Es gab aber auch eine Vielzahl von Erfindungen, neue wissenschaftliche Theorien und Entdeckungen, den Durchbruch der Moderne in Kunst und Literatur und politische Reformbewegungen wie die Frauenrechtsbewegung. Deutschland schickte sich an, ein industrieller Gigant zu werden, der sogar den britischen Rivalen hinter sich ließ. 1903 erreichte eine Elektrolokomotive der Firma AEG eine Geschwindigkeit von 210 Kilometern in der Stunde. Schneller war noch nie eine von Menschen gebaute Maschine gewesen. Der Wunsch nach der Überwindung von Raum und Zeit gebar neue Helden: Rallyefahrer, Fahrradchampions und Piloten waren die Heroen der Zeit.

Von der Mobilität ist der Weg zur Mobilmachung nicht weit. Im August 1903 führte der deutsche Flugpionier Karl Jatho den ersten motorisierten Flug durch, vier Monate vor den Gebrüdern Wright, deren herausragende Leistung darin bestand, das erste Flugzeug für einen längeren und gesteuerten Motorflug gebaut zu haben. Schon 1899 hatte der pensionierte Kavalleriegeneral Ferdinand Graf von Zeppelin mit dem Bau des ersten lenkbaren Starrluftschiffs begonnen. Die deutsche militärische Führung setzte große Hoffnungen auf die nach ihrem Konstrukteur benannten Zeppeline, die als spezifisch deutscher Beitrag zur Luftfahrt galten und im Ersten Weltkrieg als Angriffswaffe und Aufklärungsmittel tatsächlich eine gewisse Rolle spielten. Im Italienisch-Türkischen Krieg 1911/12 griff erstmals ein Flugzeug in die Kampfhandlungen ein und warf mehrere Bomben auf eine Oase in der Nähe von Tripolis ab, was Filippo Tommaso Marinetti, der als Korrespondent der Pariser Zeitschrift „Gil Blas“ in Libyen unterwegs war, zu seinem Lautgedicht „Zang tumb tumb“ inspirierte. Der amerikanische Kongress bewilligte 1911 eine Summe von 125 000 Dollar für den Ankauf von zehn Militärflugzeugen, nachdem die US-Armee bereits 1908 das von den Brüdern Wright erworbene „Airplane No. 1“ in Dienst gestellt hatte. Während die Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner gegen die „Barbarisierung der Luft“ protestierte, warben andere wie der populäre Schriftsteller Peter Rosegger für den Ausbau der österreichisch-ungarischen Luftflotte.

Die bedeutendste Avantgardebewegung Italiens, der Futurismus, begeisterte sich vor allem auch für die technische Dimension der Moderne. 1909 veröffentlichte Filippo Tommaso Marinetti sein erstes futuristisches Manifest, dessen neunte These lautete: „Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.“ Die Gründungsurkunde des Futurismus geht in ihrer Radikalität weit über die kathartischen Beschwörungen deutscher Expressionisten hinaus. In den elf Thesen werden die Liebe zur Gefahr besungen, die angriffslustige Bewegung, die Schönheit der Geschwindigkeit, die lenkende Hand des Mannes, die Zerstörung von Bibliotheken, Museen und Akademien. Die siebte These lautete: „Schönheit gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein.“ Das Manifest war eine Feier des Agonalen, einer Mobilität, die ihre Erfüllung in der Mobilmachung fand. Die Ästhetik des Futurismus implizierte Jugendlichkeit und Aggressivität, Geschwindigkeit und Gewalt. Marinetti war beeinflusst von der anarchistischen „Propaganda der Tat“, einer Lehre, die seit 1878 zu einer nicht abebbenden Welle von Attentaten geführt hatte, aber auch von Nietzsche, D’Annunzio, Sorel, Bergson und seinem „élan vital“. Seit 1905 lebte Marinetti nach langen Jahren in Paris wieder in Italien und entfaltete einen beachtlichen Aktionismus, der ihn bald zum führenden Kopf des Futurismus werden ließ.

Am Krieg in Libyen nahm Marinetti als Kriegsberichterstatter teil. Er zog tanzend und singend in den Krieg, wie es in seiner Reportage „La battaglia di Tripoli“ heißt. Die Prosatexte, die in dieser Zeit entstanden, sind Beispiele des von ihm propagierten „telegraphischen Lyrismus“. In der Beschreibung der Schlacht wird zu jedem Begriff eine Metapher assoziiert: „Vorhut: 20 meter bataillone-ameisen reiterei-spinnen straßen-furten general-inselchen meldereiter-heuschrecken sand- revolution haubitzen-volksredner wolken-gitter gewehre-märtyrer schrapnells-heiligenscheine.“ Der Krieg war die Verlängerung der revolutionären Gewalt, die Schlacht die sakralisierte Destruktion.

Nach dem Libyenkrieg wurden auch die folgenden Kriege, so zum Beispiel die beiden Balkankriege 1912 und 1913, von den Nationalisten und den Futuristen begrüßt, mit Texten wie Enrico Cardiles „Ode an die Gewalt“, in der die Gewalt aufgefordert wird, das ganze Leben in eine Schlacht zu verwandeln. Der Erste Weltkrieg löste dann eine wahre Flut von „Interventionsliteratur“ aus. Die namenlosen Schrecken und der millionenfache Tod, der auch die Gemeinschaft der Futuristen nicht verschonte, taten der Begeisterung keinen Abbruch, ganz im Gegenteil: Faschisten und Futuristen einte die Überzeugung, dass der Kampf nach dem unvollständigen Sieg von 1918 weitergehen müsse.

Marinetti schrieb, er sei der „einzige auf moderne Kriege spezialisierte Poet“

Als Italien 1935 einen Krieg gegen das damalige Kaiserreich Abessinien begann und dabei mit unglaublicher Grausamkeit gegen die Zivilbevölkerung vorging, war Marinetti wieder zur Stelle und besang erneut die Ästhetik des Krieges: „Der Krieg ist schön, weil er dank der Gasmasken, der schreckenerregenden Megaphone, der Flammenwerfer und der kleinen Tanks die Herrschaft des Menschen über die unterjochte Maschine begründet. Der Krieg ist schön, weil er die erträumte Metallisierung des menschlichen Körpers inauguriert. Der Krieg ist schön, weil er neue Architekturen, wie die der großen Tanks, der geometrischen Fliegergeschwader, der Rauchspiralen aus brennenden Dörfern und vieles andere schafft.“

Marinetti forderte die Dichter und Künstler des Futurismus auf, sich einer Ästhetik des Krieges zu erinnern, damit ihr Schaffen von ihr erleuchtet würde. Es ist eine Ästhetik, die mit der des Faschismus kompatibel ist; die Feier des Lebens ist zugleich die Feier des Todes. Marinetti hatte sich 1924 vorübergehend von seinem Freund Mussolini distanziert, aber schon bald seinen Frieden mit dem faschistischen Regime gemacht und ihm als kultureller Repräsentant gedient. Der Futurismus wurde, anders als der Expressionismus in Deutschland, zur wichtigsten Kunstrichtung des Faschismus und repräsentierte ein dynamisches, modernes Italien, in dem der Kampf die Substanz des Lebens war. 1942, zwei Jahre vor seinem Tod, sah man Marinetti trotz seiner 67 Jahre in Uniform an der russischen Ostfront. Er begleitete ein italienisches Expeditionskorps und rühmte anschließend die für ihre Grausamkeit berüchtigte Einheit, die auf die Bekämpfung von Partisanen spezialisiert war. Am Ende seines Lebens schrieb er rückblickend, er sei der „einzige auf moderne Kriege spezialisierte Poet“.

Italien hatte am 29. September 1911 dem Osmanischen Reich den Krieg erklärt und dessen Besitzungen in Nordafrika angegriffen. Dieser Krieg endete im Jahr darauf mit einem italienischen Sieg und dem Zugewinn von Tripolitanien, der Cyrenaika und dem Dodekanes. Das gab dem Irredentismus erheblichen Auftrieb und belastete die Beziehung zum Habsburgerreich, zu dessen Ländern noch immer „terre irredente“, unerlöste Gebiete mit einer italienischsprachigen Bevölkerung, wie das Trentino, Dalmatien und Istrien gehörten.

Der öffentliche Diskurs war in Italien komplexer als in anderen Ländern. Das zentrale Argument, die Nation müsse in Einigkeit zusammenstehen, um das Land gegen einen Aggressor zu verteidigen, war nicht zur Hand, denn Italien war von niemandem angegriffen worden. Den meisten Italienern war auch das Schicksal von Orten wie Trient oder Triest eher gleichgültig, keinesfalls hätten sie für ein vergrößertes Vaterland einen Krieg riskieren wollen. Zu keiner Zeit gab es in Italien einen Burgfrieden oder eine Union sacrée, das Land war im Gegenteil tief zerrissen. Eine innere nationale Einheit gab es so wenig wie einen sozialen Ausgleich. Die Dominanz der Piemonteser gegenüber dem verarmten Süden war der Italianisierung Italiens nicht eben förderlich gewesen. Viele Bürger empfanden die aus dem Florentinischen hervorgegangene Einheitssprache nicht als ihre Muttersprache. Es drohte 1914 auch kein Angriff, vielmehr umwarben beide Kriegsparteien das Land und versprachen dem potenziellen Bundesgenossen territoriale Zugewinne.

Ein besonders lautstarker Interventionist war der sozialistische Publizist Benito Mussolini. 1911 war er noch Wortführer der sozialistischen Opposition gegen den Libyenkrieg gewesen, hatte zum Generalstreik aufgerufen und Barrikadenkämpfe organisiert, was ihn vorübergehend ins Gefängnis brachte. 1912 wurde er Chefredakteur der Parteizeitung „Avanti“, die wie die Sozialistische Partei Italiens einen neutralistischen Kurs vertrat. Doch Mussolini kam durch die deutsche Niederlage in der Marneschlacht zu der Überzeugung, dass die Mittelmächte den Krieg verlieren würden. Demnach machte sich ein neutrales Italien aus seiner Sicht zum Komplizen der Mittelmächte, weil es nicht mithalf, deren Niederlage herbeizuführen. Als er dies im Oktober 1914 im „Avanti“ schrieb und sich weigerte, seinen Standpunkt zu revidieren, wurde er als Chefredakteur abberufen, im November dann auch aus der Sozialistischen Partei ausgeschlossen. Mussolini gründete daraufhin – mit finanzieller Unterstützung aus Frankreich – seine eigene Zeitung „Il Popolo d’Italia“, in der er leidenschaftlich für die Intervention plädierte.

So realistisch Mussolinis Überzeugung war, dass es Deutschland nicht gelingen würde, Frankreich nach dem Scheitern des Schlieffen-Plans doch noch niederzuringen, so illusionär war der in Italien verbreitete, auch von ihm geteilte Glaube, der Krieg würde nur von kurzer Dauer sein. Viele von denen, die für die Bewilligung der Kriegskredite gestimmt hatten, hofften zudem, Italiens Kriegsteilnahme würde die Stabilisierung im Innern fördern. Diesem kurzsichtigen Sozialimperialismus war kein Erfolg beschieden. Stattdessen trug die Enttäuschung über den Ausgang des Krieges maßgeblich zum Scheitern der – im jungen italienischen Nationalstaat nach wie vor fragilen – Demokratie bei. Ähnlich wie in Deutschland zerfiel die italienische Gesellschaft nach Kriegsende in tödlich verfeindete Lager. Obwohl Italien bei den Friedensverhandlungen auf der Gewinnerseite stand, gab es keinen Nachkriegsdiskurs vom Sieg, der geeignet gewesen wäre, die verschiedenen Gruppen einander näher zu bringen. Der Riss ging sowohl durch die Gesellschaft im Ganzen wie auch durch die Sozialistische Partei, die schon 1914 ihre Geschlossenheit eingebüßt hatte. Benito Mussolini und Palmiro Togliatti hatten als engagierte Sozialisten 1911 das militärische Engagement ihres Landes in Libyen bekämpft, 1915 zogen sie beide – wenn auch politisch nicht mehr Seite an Seite – in den Krieg gegen Österreich, doch 1918 trennten sich ihre Wege endgültig. Mussolini wurde zum Führer der faschistischen Bewegung, während Togliatti 1921 zu den Gründungsmitgliedern der Kommunistischen Partei Italiens gehörte und jahrzehntelang eines ihrer profiliertesten Mitglieder war; nach der faschistischen Machtübernahme ging er nach Moskau ins Exil. Auch der bedeutende liberale Intellektuelle Giorgio Amendola hatte zu den Interventionisten gehört, im Mai 1915 wurde er Artillerieoffizier und erhielt später für seine Tapferkeit einen Orden. Anders als viele andere Liberale stellte er sich Mussolini konsequent entgegen und fiel 1926 einem faschistischen Attentat zum Opfer.

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