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In Brüssel werden Reformen diskutiert, die einer europäischen Revolution gleichkommen. Deutschland hält sich raus.

© dpa

ESM und Fiskalunion: Das SOS verhallt in Deutschland

In Europa beginnt in diesen Tagen ein neues Kapitel - und Deutschland könnte es mitgestalten. Stattdessen stellen sich Regierung und Opposition blind, taub und stumm. Jetzt entscheiden andere über das Schicksal Europas.

Dramatische Wochen stehen Europa bevor. Griechenland droht nach den Parlamentswahlen am kommenden Sonntag das Euro-Aus, auch Spanien steht finanziell am Abgrund. Andere Länder könnten folgen. Die Angst vor einem Auseinanderbrechen der EU ist groß. In Brüssel hat derweil das Endspiel um den Euro begonnen. Mit 100 Milliarden Euro aus dem Euro-Rettungsfonds sollen die spanischen Banken gerettet werden. Um wie Griechenland oder Portugal das ganze Land unter den Rettungsschirm zu stellen, reicht das Geld nicht.

In der Krise soll Europa nun noch sehr viel enger zusammenrücken, um den Euro zu retten und einen Absturz der europäischen Volkswirtschaften zu verhindern. Obwohl der Fiskalpakt noch nicht von den 25 beteiligten Euro-Ländern ratifiziert wurde und der europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) mit seinem Stammkapital von zunächst 700 Milliarden Euro noch nicht eingerichtet ist, wird in der EU schon der nächste Rettungsplan vorbereitet. Die Visionen, die derzeit in Brüssel diskutiert werden, klingen dabei wie eine europäische Revolution.

Und was machen die deutschen Parteien? Sie reden die Lage schön, ducken sich weg, verlieren sich in billigen parteitaktischen Spielchen. Die Angst vor den eigenen Wählern ist so groß, dass niemand europäische Verantwortung übernehmen will. In Brüssel steht das Schicksal Europas auf dem Spiel, doch Regierung und Opposition in Berlin erwecken gemeinsam den Eindruck, als hätten sie den Ernst der Lage überhaupt nicht erkannt.

Von der Bundesregierung sind die immer gleichen Parolen zu hören. Zwar erklärte Merkel am Donnerstag vergangener Woche in einem Interview mit dem ARD-Morgenmagazin „wir müssen Schritt für Schritt auch Kompetenzen an Europa abgeben“, auch plädierte sie für ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Doch blieb sie dabei ziemlich abstrakt. Konkretes ließ die Kanzlerin wie immer offen, von Führung bei Angela Merkel keine Spur. Die Bundesregierung pocht in der EU weiter allein auf eine rigide Sparpolitik, die die Wirtschaft in den Krisenländern abwürgt. Sie verhindert so Fortschritte in der Stabilisierung der Eurozone.

In der deutschen Innenpolitik dominieren zudem weiterhin die parteitaktischen Spielchen. Noch vor der Sommerpause sollen Bundestag und Bundesrat den Fiskalpakt und den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) verabschieden. In beiden Parlamentskammern ist eine Zweidrittel-Mehrheit und damit die Zustimmung der SPD erforderlich.

Die Opposition knüpft ihre Zustimmung jedoch an sachfremde Bedingungen, zum Beispiel die Einführung der Finanztransaktionssteuer und ein europäisches Wachstumspaket. Dabei wissen alle: Der Fiskalpakt, auf dem sich im März alle EU-Länder außer Tschechien und Großbritannien verständigt haben, lässt sich nicht mehr aufschnüren. Die Bundesregierung wiederum spielt auf Zeit. Merkel spekuliert darauf, dass die Sozialdemokraten es sich am Ende allein aus staatsmännischer Verantwortung nicht leisten können, den Fiskalpakt scheitern zu lassen. Die Folgen für den Euro und für Europa wären schließlich unkalkulierbar.

Doch das Hickhack der Parteien will nicht enden. Am Donnerstag noch verkündeten Regierung und Opposition eine Einigung bei der Finanztransaktionssteuer, selbst die Liberalen schienen eingeknickt zu sein. Dabei haben CDU, CSU und FDP das Zugeständnis offenbar nur gemacht, weil sie sowieso nicht daran glauben, dass sich die Steuer in Europa durchsetzen lasse. Auch die Bundesländer sind mittlerweile in den Poker um die Verabschiedung von Fiskalpakt und ESM eingestiegen. Sie fordern für ihre Zustimmung vom Bund mehr Geld.

Merkel ignoriert die europäische Revolution.

Doch mit kleinkariertem Parteienstreit, föderalen Erpressungsmanövern und nationalen Egoismen verspielt die Politik gleichermaßen auch noch das letzte Vertrauen bei ihren europäischen Partnern und ihren europaskeptischen Wählern. Die lehnen den ESM und die Rettung Griechenlands weiterhin mehrheitlich ab.

Obwohl die Zeit drängt, verzichtet Angela Merkel weiterhin auf politische Führung. Die Kontrolle über die Eurokrise ist ihr längst entglitten. Die größte europäische Volkswirschaft ist in der Eurozone zunehmend isoliert – den Takt geben dort andere vor. Dabei wissen alle: Eigentlich müsste Deutschland in Sachen Euro-Rettung vorneweg marschieren, eigentlich müsste Deutschland in Europa Vorreiter sein. Doch auch in ihrem Interview mit dem ARD-Morgenmagazin verlor Merkel kein Wort über die europäische Revolution, über die derzeit in Brüssel diskutiert wird.

Nach dem Willen von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, Ratspräsident Herman Van Rompuy, dem Chef der Euro-Gruppen Jean-Claude Juncker und dem EZB-Chef Mario Draghi der EZB soll es schon bald eine europäische Bankenaufsicht geben, gemeinsame Garantien für Bankeneinlagen sowie einen Schuldentilgungspakt. Aus der Eurozone soll eine wirkliche Fiskalunion werden. Es geht nicht mehr um Eurobonds oder eine Transferunion. Die Mitglieder der EU sollen vielmehr sogar ihr Budgetrecht teilweise an Brüssel abtreten und nicht mehr allein über die Aufnahme von Schulden dürfen. Allen Beteiligten ist dabei klar, dass eine Fiskalunion nur zusammen mit einer politischen Union funktioniert. Und wenn nicht alle EU-Staaten mitmachen, dann soll ein Kerneuropa vorangehen.

Was das bedeutet, ist klar: Die EU-Länder müssten politische Kompetenzen und politische Souveränität an Europa abgeben. Allen voran Deutschland: Es müsste mit seiner Wirtschaftskraft das finanzielle Überleben des Euros garantieren. Klar ist auch, dass nicht nur die Verfassung geändert werden muss, sondern die Deutschen in einer Volksabstimmung dem Verzicht auf Souveränität zustimmen müssten. Doch die Bundesregierung und die Opposition schweigen zu solchen Visionen, das Wort „Vereinigte Staaten von Europa“ ist in der innenpolitischen Debatte weiterhin Tabu. Europa steht vor einem fundamentalen Umbruch oder seinem Scheitern. Und Deutschland schaut nur zu.

Christoph Seils leitet die Online-Redaktion des Magazins Cicero. Er ist Autor des Buches „Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien?“, erschienen im WJS-Verlag. Er schreibt an dieser Stelle wöchentlich über die deutsche Parteienlandschaft.

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