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27 Nationalstaaten, ein europäischer Bundesstaat - so sieht es Tagesspiegel-Redakteur Albert Funk.

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Essay: Europa ist schon längst ein Bundesstaat

Die Europäische Union ist schon viel weiter, als viele in Deutschland wahrhaben wollen. Sie ist ein gemeinsamer Staat, auch wenn das Bundesverfassungsgericht das anders sieht.

Demokratie lebt davon, dass die Bürger die Politik verstehen. Einigermaßen jedenfalls. Das gilt für einzelne Gesetze, das gilt für die Verfassung. In welch einer Verfassung leben wir? Die Frage muss leicht zu beantworten sein. Deutschland ist ein demokratischer Bundesstaat. So weit, so klar. Wenn es darum geht, was das konkret bedeutet, dann wird es komplizierter, das ist richtig. Aber die Grundfrage ist leicht beantwortet.

Was aber ist die Europäische Union? Ein Staatenbund? Ein Staatenverbund? Ein Bundesstaat? Einfach nur ein Bund? Oder etwas ganz Eigenes, noch nie Dagewesenes, das man gar nicht auf den Begriff bringen kann? All das ist zu hören, die Meinungen gehen auseinander. Weniger im Volk – das rätselt einfach, weil desorientiert, und hat keine Antwort. Es hat von der EU wohl in seiner großen Mehrheit überhaupt keinen Begriff. Unsicherheit aber nährt Misstrauen und Ablehnung. Das ist schlimm. Schlimmer ist, dass jene, die dazu berufen wären, Klarheit zu schaffen, sich nicht einigen können und wollen, was die EU ist. Juristen, Politikwissenschaftler, Politiker finden keinen Konsens. Wenn man sich aber nicht einig wird, was das Ganze ist, dann darf man sich nicht wundern, wenn durch das Volk die Frage geistert, was das Ganze eigentlich soll. Ein unguter Zustand.

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Was also ist die Europäische Union? Am einfachsten ist es wohl, von der Wirklichkeit auszugehen. Und die ist bundesstaatlich. Die Europäische Union funktioniert bundesstaatlich, sie ist wie ein Bundesstaat eingerichtet. Die Europäische Union ist ein Bundesstaat. Wäre diese einfache Erkenntnis verbreitet und akzeptiert, gäbe es weniger Unsicherheit. Mit dem Bundesverfassungsgericht aber ist das nicht zu machen. Karlsruhe verneint, dass die EU ein Bundesstaat ist und und hält an der selbst geschaffenen Fiktion des Staatenverbundes fest. Jener Ausrede, die entstand, weil man die EU nicht mehr als Staatenbund bezeichnen konnte, sie aber auch nicht als Bundesstaat bezeichnen wollte. Weil man, verkürzt gesagt, davon ausgeht, dass ein Bundesstaat formell gegründet werden muss. Diese Gründung setzt nach der Vorstellung der Richter, dargelegt im Lissabon-Urteil vom Juni 2009, ein „einheitliches europäisches Volk als Legitimationssubjekt“ voraus. Gibt es einheitliche Völker?

Für die Bundesstaatsgründung ist nach dem Lissabon-Urteil auch eine „Verfassungsneuschöpfung“ in Deutschland notwendig, mit der ausdrücklich auf die souveräne Staatlichkeit der Bundesrepublik verzichtet würde. Nach Lage der Dinge würde das eine Volksabstimmung nach sich ziehen. Einen konkreten Zeitpunkt hat das Gericht nicht genannt. Aber die Richter lassen gelegentlich durchblicken, dass der Tag naht, dass rote Linien sichtbar sind, dass der Rahmen, den das Grundgesetz für die europäische Integration setzt, ausgeschöpft ist.

Aber muss ein europäischer Bundesstaat wirklich formell gegründet werden? Er muss nicht. Er entsteht einfach. Der europäische Bundesstaat ist seit längerem im Werden. Er ist da. Das hat auch das Karlsruher Gericht schon gemerkt, im Lissabon-Urteil liest man den Satz, die politische Gestaltungsmacht der Union sei so gestiegen, „dass inzwischen in einigen Politikbereichen die Europäische Union einem Bundesstaat entsprechend – staatsanalog – ausgerichtet ist“. Die Bereiche werden nicht genannt, aber es ist kein Geheimnis, dass die EU-Ebene mittlerweile in praktisch allen Feldern der Politik (mit)gestaltet. Und dann soll die EU kein Bundesstaat sein?

Die Richter in Karlsruhe haben sich selbst eine Fiktion von Europa geschaffen

Der Autor ist Politikredakteur des Tagesspiegels und hat eine „Kleine Geschichte des Föderalismus. Vom Fürstenbund zur Bundesrepublik“ geschrieben, erschienen bei F. Schöningh.
Der Autor ist Politikredakteur des Tagesspiegels und hat eine „Kleine Geschichte des Föderalismus. Vom Fürstenbund zur Bundesrepublik“ geschrieben, erschienen bei F. Schöningh.

© Illustration: Reiner Schwalme

Das Problem, das die Karlsruher Richter mit der EU haben, ist möglicherweise ein Problem der deutschen Staatsrechtslehre. Die hat in ihrer Mehrheit ein eher enges, starres Bundesstaatsverständnis. Der Bundesstaat ist demnach unitarisch. Also auf Einheit und Einheitlichkeit ausgerichtet. Ein System, in dem die Gliedstaaten wenig Autonomie besitzen. Eine hierarchische Ordnung mit einer dominanten Zentrale, während die Teile Befehlsempfänger und Auftragsumsetzer sind. Diesen Bundesstaat will in Europa kaum jemand. Selbst die Deutschen nicht. Darauf ruht wohl der Widerstandsgeist des Gerichts. Es ist bloß so: Ein Bundesstaat muss nicht unitarisch sein. Es geht auch anders.

Das unitarische Bundesstaatsmodell geht darauf zurück, dass viele national denkende Juristen des 19. Jahrhunderts (darunter die meisten Meinungsführer) sich den Einheitsstaat wünschten. Da aber 1870 nur der Bundesstaat zu haben war, wollte man diesen so zentral gesteuert wie möglich. Bisweilen wurde der Bundesstaat nur als eine Art Durchgangsstation zum Einheitsstaat betrachtet. Mit der Weimarer Verfassung war das Ziel beinahe erreicht, aber nur beinahe. Auch die erste Republik war ein Bundesstaat. Doch mit einem hohen Grad an Zentralisierung. Das hat man zumindest in den ersten Jahren der Bundesrepublik zurückzunehmen versucht. Dann aber wurde die fragwürdig gewordene nationale Volkseinheit als Begründungsargument für mehr Zentralisierung ergänzt und überlagert durch angebliche Notwendigkeiten des technokratischen Interventions- und Sozialstaats. Der so legitimierte „unitarische Bundesstaat“, den der spätere Verfassungsrichter Konrad Hesse vor 50 Jahren ausrief, ist im Grunde bis heute das Leitbild.

Aber auch wenn die deutsche Erfahrung der vergangenen 100 oder gar 150 Jahre so ist: Die unitarische Entwicklung ist kein Naturgesetz. Ein europäischer Bundesstaat muss kein Superstaat mit einer alles lenkenden Brüsseler Zentrale sein. In Bundesstaaten kann es auch dezentral oder ausgewogen zugehen. Es gibt da Beispiele auf der ganzen Welt. Oder in der deutschen Verfassungsgeschichte. Die ist nicht erst seit 1870, sondern schon seit dem Mittelalter bundesstaatlich verlaufen. Spätestens mit der Verfassungsreform auf dem Wormser Reichstag von 1495, als die Fürsten und Städte über ihre Landesstaaten einen bundesstaatlichen Überbau setzten – regelmäßige Reichstage zur Reichsgesetzgebung und ein Reichsgericht, das übrigens recht populär war. Die Exekutive blieb weitgehend Sache der Länder. Damit war der bundesstaatliche Weg nach deutscher Gangart beschritten. Der Grund für die Bundesstaatlichkeit war übrigens derselbe wie heute in Europa – es war vor allem der Wunsch nach einer tragfähigen Friedensordnung, zur Durchsetzung des Allgemeinen Landfriedens. Die Folge war auch damals eine vereinheitlichende Bundesgesetzgebung, die zumindest im 16. Jahrhundert recht rege war. Größerer Friedensraum, Rechtsraum, Wirtschaftsraum – alles ganz ähnlich. Dieser vormoderne, vordemokratische Bundestaat war kein allzu unitarisches Gebilde, der Schwerpunkt lag bei den Einzelstaaten. Der Bund ließ viel Freiraum zu in den Grenzen des Bundesrechts. Es spricht nichts dagegen, es in demokratischen Zeiten nicht auch so zu halten.

Das Alte Reich war ein „aus Staaten zusammengesetzter Staat“ – die Formulierung des führenden Reichsjuristen Johann Stephan Pütter ist eine bis heute kaum übertroffene Kurzbeschreibung des Bundesstaats. Was ist die EU anderes? Dass Bundesstaaten flexible Systeme sind und keine starren Konstrukte, dass sie nicht unitarisch sein müssen, das galt früheren Generationen als ausgemacht. Die Demokraten im Paulskirchenparlament von 1848 definierten den Bundesstaat so: „Es ist nämlich der Begriff des Bundesstaates ein nicht ganz fest bestimmter und begrenzter, er bewegt sich vielmehr in einem Mehr oder Minder zwischen zwei äußersten Grenzen, dem Staatenbunde auf der einen, dem einheitlichen, centralisierten Reiche auf der andern Seite, so dass sich der Bundesstaat bald dem einen, bald dem anderen mehr nähern kann.“ Eine einleuchtende Erklärung. Die EU steht dem Staatenbund sicher näher als dem Einheitsstaat. Wobei man anfügen muss, dass die Grenzen fließend sind. Generationen von Juristen haben versucht, Staatenbund und Bundesstaat voneinander abzugrenzen. Sie kamen auf keinen grünen Zweig.

Das Bismarckreich galt den meisten Staatsrechtlern der Zeit als Bundesstaat. Was Organisation und Verfahren angeht (unabhängig vom demokratischen Gehalt, der ist heute natürlich höher), ist die Ähnlichkeit mit der EU verblüffend. Entscheidend war der Bundesrat, die Vertretung der Einzelstaaten – so ist es auch in der EU mit dem Rat, in dem die nationalen Regierungen sitzen. Eine richtige Reichsregierung gab es zu Beginn praktisch nicht, erst später gewann sie immer mehr Gewicht. So geht es auch der EU-Kommission. Der Reichstag als Volksrepräsentation hatte zwar keinen direkten Einfluss auf die Bildung der Regierung, aber bestimmte indirekt mit und konnte seine Position stetig ausbauen – so wie das heute auch in der EU der Fall ist. Diese institutionelle Konstellation genügte damals und genügt heute, um das Reich als Bundesstaat zu bezeichnen. Warum ist die ganz ähnlich gestrickte EU dann keiner?

Spätestens in der Krise sind die Europäer zu einem Bundesvolk geworden

Wo geht´s lang in Europa?
Wo geht´s lang in Europa?

© dapd

Die EU habe kein Staatsvolk, heißt es. Wirklich? Einheitlich mag es ja nicht sein. Aber wer sitzt seit Beginn der Euro-Krise allabendlich vor den Fernsehern und schaut sich die Nachrichten an, um zu wissen, was in Europa vor sich geht? Europäer, die mittlerweile allesamt erkannt haben, dass in der EU auf zwei Ebenen entschieden wird – in Brüssel und daheim. Die jetzt erst recht begreifen, wie weit die Integration schon gediehen ist, wie weit ihre Nationen zu einer Schicksalsgemeinschaft geworden sind, die ihre Interessenskämpfe politisch austrägt. Die meisten Europäer mögen Brüssel wohl nicht, und das bestimmt ihre Meinung, es dürfe nicht zu viel Europa geben. Sie schimpfen auf „Brüsseler Bürokratie“ – aber doch nur, weil unser Leben schon beträchtlich durch Rechtsakte der EU bestimmt wird. Die Europäer sind zu einem Bundesvolk geworden, ein „Volk von Völkern“.

Drei Dinge braucht der Staat, und alle drei sind auf der EU-Ebene vorhanden: Legislative, Exekutive, Judikative. Es gibt die Kommission, es gibt das Parlament, es gibt den Rat (der Legislativ- und Exekutivfunktionen hat wie der frühere deutsche Bundesrat), es gibt den Gerichtshof. Alle diese Institutionen bestimmen das Leben der Europäer nachhaltig. Es geht dort um Wesentliches. Wie erklärt man dann einer Schulklasse von Fünfzehnjährigen, dass die EU-Ebene nicht staatlich, dass die EU kein Bundesstaat sei?

Karlsruhe macht nicht zuletzt geltend, dass die EU nur eine Vertragsunion sei, dass sie im Wesentlichen auf zwischenstaatlichen Verträgen beruhe. Das ist in der Tat das Besondere an der Union. Nur kennen wir das im deutschen Bundesstaat auch, zwischenstaatliche Verträge der Länder, die ausverhandelten Staatsverträge, gehören ganz selbstverständlich zum deutschen Bundesstaatsmodell. Es ist letztlich eine Frage der Gewichtung.

Natürlich hängen die meisten Europäer an ihren Nationalstaaten. Das ist der Grund, warum die nationalen Regierungen ihrem Gremium, dem Rat, weiterhin die zentrale Rolle in der EU zumessen werden. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass die EU sehr bald zu einem unitarischen Bundesstaat wird wie die Bundesrepublik. Das werden die Regierungen der Mitgliedstaaten nicht zulassen, da wissen sie ihre Völker hinter sich. Aber die EU-Ebene wird wichtiger werden. Es wird, das bringt die Euro-Währung mit sich, mehr Union geben. Vermutlich auch mehr Transferunion (das sind Bundesstaaten heutzutage immer, die EU ist es schon längst mit ihren ausgleichenden Förderprogrammen; die entscheidende Frage ist, wie weit man es damit treibt). Wer aufgrund der deutschen Erfahrung den Rutschbahneffekt hin zu immer mehr Europa fürchtet, zu immer weniger Autonomie der Einzelstaaten, der sollte beachten, dass auch die deutschen Länder an ihrer Entmachtung selber nicht ganz unschuldig waren. Den Regierungen gefiel es wohl, die Mitsprache auf der dominierenden Bundesebene auszudehnen auf Kosten der ohnehin geringer werdenden regionalen Eigenständigkeit. Die Landtage ließen es geschehen. In Europa muss es nicht so kommen – wenn die nationalen Parlamente wachsam sind.

Der europäische Bundesstaat mag noch ungefestigt sein. Aber es gibt ihn. Einen nachholenden Schöpfungsakt wird es daher kaum geben. Ein evolutionärer Verfassungsprozess, und in dem befinden wir uns, hat keine entscheidenden Zeitpunkte (oder er hat sie ständig). In beiden Fällen ist es müßig, nach Volksabstimmungsanlässen zu suchen. Es müsste schon ein „revolutionärer“ Moment sein. Aber wollen wir den?

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