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Essay: Zum Glück

In der Unübersichtlichkeit der Gegenwart haben Glücksratgeber und Glücksspiele Konjunktur. Alle wollen es, kaum einer weiß, wie man das erreicht, was wir einander zum neuen Jahr wünschen: Glück.

Von Caroline Fetscher

Auch darum wissen wir vom individuellen Glück ziemlich wenig, weil es meist leise war, leise ist. Wer in der Gegenwart mit Unglück, Unbill, Ungerechtigkeit konfrontiert ist, der schreibt einen Roman, ruft seine Wut als Rapsong in die Welt, besucht Selbsthilfegruppen oder tauscht sich in besonderen Foren im Internet aus. Von Foren für Glückliche hat man noch nicht gehört, die Glücklichen drängt es einfach seltener nach öffentlichem Ausdruck, als die Unglücklichen. Für Rezipienten gilt das Pendant: Katastrophen, von Menschen gemachte wie natürliche, sind der stärkere Stoff. Man muss nur die Zeitungen aufschlagen, in denen die Rubrik Good News allenfalls zur Dekoration an den Rändern der Desaster taugt. Noch bei den Goldenen Blättern mit ihren Klatschgeschichten über bekannte Personen spielen Scheidungen, Unfälle, Erkrankungen, Familienkräche, Rivalitäten die Hauptrolle.

Schon in den großen Erzählungen der Weltgeschichte, den Master Narratives, wie Literatur- und Sozialwissenschaft sie nennen, waren Unglücke in der Regel der Anschub und Ausgangspunkt des Erzähldrangs, von der biblischen Sintflut über die griechischen Göttersagen, die bei näherem Hinsehen vor allem von dysfunktionalen Familien und Machtkämpfen handeln, bis hin zu Dostojewskis „Dämonen“ oder Melvilles „Moby Dick“ oder auch dem Untergang der „Buddenbrooks“ bei Thomas Mann. Vielleicht ist also der Gesamteindruck einer unglücklichen Menschheit ganz verzerrt, eben weil die Glücklichen sprachloser waren und sind, weil sie weniger Berichte und Geschichten hinterlassen haben als die Unglücklichen? Haben wir vom Glück schlicht zu wenig erfahren? Ist das Glück, das ganz normale Glück, langweilig?

Wenn Kinder fragen, warum in den Nachrichten von so viel Schrecklichem die Rede ist, lautet eine mögliche Antwort: weil all das Unspektakuläre, das normale Glück von Millionen Menschen, die einfach nur irgendwo arbeiten, zur Schule gehen, feiern, lieben, leben, sich an ihren Erfolgen im Alltag erfreuen, weil all das andere zu wenig interessiert. Zumindest ist dieser Gedanke tröstlich. Die Wahrheit ist, dass Glück, die Vorstellung vom guten, vom frei entfalteten Leben, sich Epoche für Epoche allmählich aus Nöten, Zwängen, Mythen, dem Ballast der Historie vor der Aufklärung, herausschälen musste.

Von diesem Ballast schleppen wir bis heute einiges mit uns herum. Faszinierend auf uns Zeitgenossen wirkt der Begriff „Glück“ oft im Licht der schlichten, kontextlosen Frage, wie man denn Glück für sich selber, für die Liebe, die Familie, die eigene Gruppe erreichen, ergattern, festhalten kann. Sprichwörtlich flüchtig und oft an den Moment – den Glücksmoment – geheftet, lässt sich Glück ja nicht erzwingen, ist nicht zu kaufen, nicht zu manipulieren. Alle Epochen und Gesellschaften kennen daher Systeme und Symbole, die Flüchtigkeit des Glücks zu überlisten, im Glauben wider besseres Wissen, also Aberglauben. Mit Bedeutung aufgeladen, mit Verheißung verknüpft werden auch in unserer postmodernen, säkularen Industriegesellschaft Dinge wie Glückspfennige, Hufeisen, vierblättrige Kleeblätter, Marienkäfer oder bestimmte Schmuckstücke und gehören, als Glücksbringer gedeutet, zum kommerzialisierten Inventar unserer Neujahrsriten. Man wünscht einander nun „Viel Glück im neuen Jahr!“, ohne dass irgendein Maß und Merkmal dieses Glücks konkret benannt werden kann. Steht Glück für einen konstanten Zustand von Zufriedenheit, Wohlstand, Schutz und Sicherheit? Oder für das unerwartete, kontingente Glück, den Lottotreffer, die Zufallsliebe bei einer Begegnung im Autobus? Das erste heißt im Englischen „happiness“, das zweite „luck“. Im Deutschen wird nicht sorgfältig unterschieden, heftig gesucht, gewünscht wird beides.

Im zeitgenössischen Buchladen ist das Angebot an Lektüre zum Thema Glück so unüberschaubar, wie die Unübersichtlichkeit der kriselnden Lebenswelt, der sich die seit Jahren wachsende Glückssuche verdankt. Tröstlich klingt der Titel des Philosophen Wilhelm Schmid: „Glück: Alles, was Sie darüber wissen müssen, und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist“. Eckart von Hirschhausens „Glück kommt selten allein“ gelangte auf die Liste der Bestseller und „Die zehn Geheimnisse des Glücks“ verspricht ein anderer Titel, esoterisch bescheiden lockt „Das kleine Buch vom wahren Glück. Ein Inspirationshörbuch“, praktische Unterweisung verheißt „Mein Glücks-Trainings-Buch: Aktiv auf dem Weg zum Glück“. Für Eltern liegt der Ratgeber „Glück kann man lernen“ parat, das vermitteln will, „was Kinder stark fürs Leben macht“. Attraktiv für Selbstverbesserer wird „Der Glücks-Faktor“ sein, worin erklärt wird, „Warum Optimisten länger leben“. Ansprechend auf Weltverbesserer wirkt wohl der Appelltitel: „Teile dein Glück – und du veränderst die Welt!“ Ratgeber für die Glückssuche, etwa für das Glück in der Liebe, sind übrigens keineswegs neu. Ovids mit Humor verfasste Lehrdichtung „Ars amatoria“ (die Liebeskunst), entstand um den Beginn unserer Zeitrechnung herum und widmet sich den Fragen, wo und wie man sein Liebesglück finden, es erobern und erhalten – oder im Zweifelsfall wieder loswerden – kann.

Dass sich nicht nur hier und da ein Einzelner, ein privilegierter Privatmensch, auf die Suche nach dem Glück begeben darf, sondern dass dies einer gesamten Bevölkerung zusteht, das garantiert die amerikanische Verfassung ihren Bürgern als ein Grundrecht, als Recht auf „the pursuit of happiness“, auf das Streben nach Glück.

Die Formulierung geht zurück auf den englischen Staatstheoretiker John Locke, von dem Präsident Thomas Jefferson sie aufnahm – auch in Erinnerung an antike Traditionen von Bürgertugenden wie Mut, Mäßigung und Gerechtigkeit. Sie galten in der Antike als Ingredienzen der Eudämonie, der gelingenden, guten Lebensführung in einem Gemeinwesen. Es gehe beim „pursuit of happiness“ um mehr als individuelles Glück, erklärte Amerikas Gründungsvater Alexander Hamilton, der 1784 die Bank of New York erfand, nämlich um „social happiness“. Zwischen dem politischen, bewussten Konzept einer „social happiness“ und der getriebenen Glücksjagd Einzelner, etwa bei Unterhaltungsshows wie „Wer wird Millionär?“, klafft ein Grand Canyon. Dem typischen Glücksritter, der mit seinem Maskottchen in der Show schwitzt, geht es um eine Fantasie, ihm fehlende Privilegien – Reichtum, Sicherheit, gesellschaftliche Attraktivität – mit einem legalen Coup aufholen zu können; er ähnelt dem Zocker an der Börse.

Der Idee sozialen Glücks geht es darum, die Bedingungen für das gute Leben möglichst vieler bereitzustellen und zu perpetuieren. Wie die Voraussetzungen für solches Glück aussehen sollten, darüber dachte man in der Antike nach, in der Renaissance und vor allem in der Aufklärung.

Dass dazu die gesamte historische Entwicklung – vielmehr Fehlentwicklung – infrage gestellt und neu gedeutet werden muss, davon war Karl Marx überzeugt, als er Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts den Menschen mit einem erfüllten Leben als einen entwarf, der frei vom Zwang der Arbeitsteilung seine Fähigkeiten entfaltet. Im falschen Leben kann es kein richtiges geben, wie Brechts Dreigroschenoper lehrte: „Ja, renn nur nach dem Glück / doch renne nicht zu sehr / denn alle rennen nach dem Glück / das Glück rennt hinterher.“ Mit Kapital und Arbeitsteilung setzen Einengung und Entfremdung ein, da, so Marx, „jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann“. Seine Vision sah eine Gesellschaft, die „die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“. Unglück und Entfremdung entstehen durch „dieses Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation unsres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre Berechnungen zunichte macht“. Wo die Teilung der Arbeit, die Teilung der Gesellschaft in Klassen fortfallen, wo Strukturen der Herrschaft aufgelöst sind, da erst entwickelt sich der nichtentfremdete, glückliche Mensch. Dieses utopische Ziel taufte Marx bekanntlich den Kommunismus, ewige „social happiness“. Versuche, Kapital und Arbeitsteilung abzuschaffen, sind gleichwohl allesamt gescheitert.

Wo heute globale Glücks-Indizes aufgestellt werden, etwa bei einer weltweiten Befragung von 80 000 Menschen in armen und reichen Ländern, zeigt sich regelmäßig, dass eine Kombination aus Wohlstand, demokratischem Rechtsstaat und gutem Sozialsystem, etwa in Dänemark, der Schweiz oder Island, allgemeines Glücksempfinden befördert. In diesen Gesellschaften schrumpft die Angst. Und je weniger Angst, desto mehr Glück – die Faustregel gilt für alle Individuen. Inzwischen verbreitet sich in den wohlhabenden Staaten auch das Wissen, das den Staatstheoretikern, Ideologen und Utopisten vergangener Epochen fehlte: Eine Grundlage zum Empfinden von Glück, zum bewussten Wahrnehmen des guten Lebens, der ästhetischen, sozialen, emotionalen Eindrücke, die glücklich machen, wird in jedem einzelnen Menschenkind sehr früh gelegt. Dass in den großen Mythen, in der Weltliteratur, in den Narrativen der Moderne sich so ungeheuerlich viel Grausamkeit und Unglück spiegelt, lag auch – und vermutlich primär – am erbarmungslosen, einfühlungsarmen Umgang mit Kindern, in allen Epochen, Weltteilen, Gesellschaften. Empathiearmut kann aus dem sattesten Wohlstand jedes Glück entfernen. Und selbst „malerische Armut“, die immer schon Fiktion war, braucht Mindeststandards wie gute und bezahlbare Zahnärzte.

Im bettelarmen, buddhistischen Bhutan, das eine Weile lang erstaunlich gut bei Glückserhebungen abschnitt, obwohl es sich wirtschaftlich nicht ohne Hilfe von außen erhalten kann, erfand König Jigme Singye Wangchuck die Kategorie des „Bruttosozialglücks“, summiert aus Faktoren wie seelischem Wohlbefinden, Kultur, Ökologie, Gesundheit, Bildung, Fehlen von Korruption. Bei der breiten Bevölkerung stiftet das Messen, Erheben, Berechnen dieser Faktoren durch Beamte allerdings eher Verwirrung als Glück. Und seit man in Bhutan ausländische Fernsehkanäle empfangen kann, ach, sinkt auch die Zufriedenheit dort rapide: Jetzt wissen sie, was noch möglich wäre, was es bei den anderen gibt.

Ohne Wohlstand, ohne demokratische Freiheit, ohne Empathie ist Glück, also gelingende Zivilisation, nicht zu haben. Ein hohes Maß an wirtschaftlichem Bewegungsspielraum kombiniert mit einem hohen Maß an sozialer Gerechtigkeit und dem Fehlen rigider, religiöser oder politischer Ideologie – diese Mischung enthält offenbar die so simple wie hochkomplexe Zauberformel für relativ viel Glück für relativ viele Leute. Das klingt bescheiden. So ein durchschnittliches, „skandinavisches Glück“ ist vielleicht oft langweilig. Aber es ist allerhand. Es ist unendlich viel mehr, als die meisten unserer Vorfahren in den blutigen Epochen Europas je zu träumen gewagt hätten: Wir können uns glücklich schätzen.

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