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EU-Beitritt der Türkei: Wir können auch anders

Bisher war es so: Türkei unten, EU oben. Damit ist es jetzt vorbei.

Recep Tayyip Erdogan hat die Nase voll von Europa. Mit seinem öffentlichen Nachdenken über ein Ende der türkischen EU-Bewerbung legt der türkische Premier die Zerrüttung des türkisch-europäischen Verhältnisses offen. Euro-Krise, innerer Streit und Scheinheiligkeit in den Türkei-Verhandlungen haben das Ansehen der EU ramponiert, gleichzeitig wächst das Selbstbewusstsein Ankaras. Viele Europäer dürften froh sein, dass die Türken von sich aus zu erkennen geben, dass sie keine Lust mehr haben auf die EU. Doch Erdogans Gedankenspiele sind auch ein Anzeichen für einen Bedeutungsverlust der EU auf internationaler Ebene. Wendet sich die Türkei vom Westen ab?

Erdogan ist bekannt für verbale Paukenschläge, denen nicht unbedingt handfeste politische Entscheidungen folgen. So forderte er in den vergangenen Monaten ein Verbot der Abtreibung und die Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei – und tat anschließend nichts, um die Pläne Wirklichkeit werden zu lassen. Auch seine europakritischen Signale, die nicht zuletzt an die eigene konservative Wählerschaft gerichtet waren, sind nicht unbedingt Vorboten eines offiziellen EU-Ausstiegs.

Bedeutsam sind die Äußerungen dennoch. Erdogan weiß, dass er im Westen im Verdacht steht, die Türkei nach Osten ausrichten zu wollen. Er weiß auch, dass sich die Türkei seit Jahrzehnten nach Aufnahme in den Verein der westeuropäischen Demokratien sehnt, weil sie darin die Erfüllung eines staatspolitischen Traums sieht.

Aber all das kümmert ihn nicht, und das ist das Wichtige an Erdogans Vorstoß: Aus türkischer Sicht hat sich die Rollenverteilung zwischen EU und Türkei grundlegend geändert. Bisher war es so, dass Ankara als Antragsteller bei der EU anklopfte und sich zur Erfüllung eines Kriterienkataloges verpflichtete. Türkei unten, EU oben.

Die Türken nahmen dies bisher schimpfend hin, weil ihnen die Alternativen fehlten. Erdogan ist jetzt zu dem Schluss gekommen, dass die EU verzichtbar ist: Wir können auch anders, lautet seine Botschaft an Europa.

Dass Erdogan über ein Ende der EU-Verhandlungen redet, als ging es um den Wechsel von einem Kleingärtnerverein zu einem anderen, ist ein Zeichen dafür, wie sehr der Stellenwert Europas für ihn gesunken ist. Politisch riskant sind die Äußerungen für ihn dennoch nicht: Die meisten türkischen Wähler denken wie er, und in Brüssel gehen die Verhandlungen theoretisch so lange weiter, bis einer der beiden Gesprächspartner – EU oder Türkei – vom Verhandlungstisch aufsteht.

Diese Verhandlungen dürften durch Erdogans Äußerungen keinen großen Schaden nehmen, denn in den Gesprächen geht ohnehin nichts voran. Doch der türkische EU-Prozess wird endgültig zur Farce.

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