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Europa: Der Zeitgeist ist links, aber links ist schwach

Vormarsch des Konservatismus: Überall in Europa sind die Mitte-links-Parteien in der Defensive. Die Zeit der Technokraten ist vorbei, ein neues Projekt muss her. Ein Kommentar von Ernst Hillebrand.

Elf von fünfzehn EU-Mitgliedsstaaten wurden vor zehn Jahren von sozialdemokratischen oder sozialistischen Staats- und Regierungschefs geführt. Seither musste sich die linke Mitte in vielen Ländern von der Macht verabschieden oder als Juniorpartner in Koalitionen mit konservativen Parteien wechseln. Selbst in der Heimat des ursozialdemokratischen „skandinavischen Modells“ regieren heute mehrheitlich konservative Regierungschefs.

Vieles deutet darauf hin, dass es sich bei dieser Entwicklung um mehr als die üblichen Pendelschläge der politischen Stimmungen handelt. Vielmehr, so scheint es, geht ein politischer Zyklus zu Ende: Die einst so erfolgreichen technokratischen Reformprojekte der europäischen Linken sind an ihre Grenzen gestoßen.

Diese Projekte, ob Blairs „Dritter Weg“, Schröders „Neue Mitte“ oder der Regierungspragmatismus der skandinavischen Sozialdemokraten, waren sich im Grunde ähnlich. Sie stellten eine kluge Interpretation des politischen Zeitgeistes dar und ermöglichten es den Mitte-links-Parteien, sich in den 90er Jahren als dominierende politische Kraft in Westeuropa zu etablieren. Sie basierten auf der Kombination von gemäßigt neoliberalen Positionen in der Wirtschafts- und Fiskalpolitik mit einer Betonung der Rolle des Sozialstaats und liberal-progressiven Positionen in kulturellen und gesellschaftspolitischen Fragen.

Neuen Wählergruppen aus den Mittelschichten präsentierten sich die Parteien der linken Mitte als die effizienteren Manager des Kapitalismus: Wir werden nicht alles anders machen, vieles aber besser. Der Bildungssektor wurde in das Zentrum des politischen Projekts gerückt und mit zusätzlichen Aufgaben befrachtet. Über Bildungsinvestitionen sollten auch Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der Arbeitslosigkeit und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit gelöst werden. Tony Blairs „education, education, education“ war nicht nur ein Slogan: Es war tatsächlich ein Programm.

Heute scheint dieses Politikangebot der „technokratischen Reformlinken“ (Werner A. Perger) nicht mehr ausreichend attraktiv zu sein. Zu viele Probleme haben sich im Rahmen dieses Modells als nicht lösbar erwiesen.

Globalisierung und Europäisierung haben die wirtschaftliche Situation der Arbeitnehmer Europas negativ beeinflusst. Die Lohnquote – also der Anteil von Löhnen und Gehältern am Gesamtprodukt einer Volkswirtschaft – ist in den Ländern der „alten“ Europäischen Union in den letzten 25 Jahren kontinuierlich gefallen, trotz einer Steigerung der Beschäftigungsquote. Der Gini-Index sozialer Ungleichheit hat sich seit den 80er Jahren in vielen Ländern Westeuropas erhöht. Abstiegs- und Statusängste erfassen zunehmend nicht nur traditionelle Arbeiter- und Angestelltenmilieus, sondern auch die Mittelschichten. Das „Gespenst der Nutzlosigkeit“, um eine Formulierung des Londoner Soziologen Richard Sennett zu gebrauchen, erschreckt längst nicht mehr nur die Industriearbeiter.

Parallel hierzu hat auch eine andere Antwort der Mitte-links-Parteien auf den wirtschaftlichen Wandel – das Versprechen, mit der EU einen neuen und effizienteren Rahmen für die Gestaltung von Sozial- und Wirtschaftspolitik zu schaffen – an Akzeptanz verloren. Heute stehen viele Bürger Europas der EU skeptisch oder gar negativ gegenüber. Es lässt sich eine emotionale Renationalisierung beobachten, die sich hart mit dem europa- und globalisierungsfreundlichen Diskurs des linken Establishments stößt.

Auch die Versprechungen einer „Bildungsrevolution“ haben sich nicht wirklich halten lassen. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt laut offizieller Statistiken in Europa bei etwa 18 Prozent, wobei die realen Zahlen höher sein dürften. Die soziale Durchlässigkeit der Bildungssysteme hat sich nicht verbessert (eher sogar verschlechtert), und die Zahl der erfolgreichen Absolventen von Sekundarschulausbildungen hat sich in den vergangenen 20 Jahren in der EU nur wenig verändert. In Deutschland etwa ist in den letzten zehn Jahren die Zahl der Studierenden um ganze 0,5 Prozent gestiegen. Die Unterfinanzierung mancher Bildungssysteme hat die Qualität von Universitätsabschlüssen unterhöhlt und ihren Wert auf dem Arbeitsmarkt entwertet.

Gleichzeitig sind neue Herausforderungen aufgetaucht. Die gilt vor allem für das Thema der Immigration. Die Antwort der Linken, das Konzept einer „multikulturellen Gesellschaft“, ist weitgehend gescheitert. Es hat marginalisierte Minderheitengettos und fragmentarisierte Gesellschaften geschaffen, in den keine erfolgreiche Integration stattfindet und in denen sich die wechselseitigen Frustrationen von Alteingesessenen und Zuwanderern eher verstärken als abschwächen. Die Linke hat die Diskussion dieser Entwicklungen jahrelang tabuisiert und verweigert.

Zudem gibt es Anzeichen, dass in den westlichen Gesellschaften ein schleichender Wertewandel stattfindet und sich der gesellschafts- und kulturpolitische „Zeitgeist“ von einem als exzessiv empfundenen Liberalismus abzuwenden beginnt. Traditionelle Arbeitnehmermilieus standen den libertären Werten des Linksliberalismus ohnehin immer ablehnend gegenüber. Diese Stimmung wird von der Rechten zunehmend politisch instrumentalisiert: Nicolas Sarkozy hat in seiner Wahlkampagne der „Abrechnung“ mit den 68ern einen breiten Raum eingeräumt. In den USA haben die Republikaner ihre letzten Wahlkämpfe strategisch um „Wertethemen“ aufgebaut und die Demokraten wiederholt erfolgreich ausmanövriert.

Als Folge dieser Widersprüche haben sich die Mitte-links-Parteien Westeuropas heute Teilen ihrer traditionellen Stammwählerschaft weitgehend entfremdet. Gerade in einfachen „populären“ Sektoren der Gesellschaft sind sie kommunikativ und kulturell nicht mehr anschlussfähig. Sie sprechen weder ihre Sprache noch teilen sie die Sorgen und Probleme dieses Teils der Bevölkerung. Organisatorisch sind die Mitte-links-Parteien in den Problemvierteln vieler europäischer Großstädte kaum mehr präsent.

Es ist dies die Lücke, in die zunehmend populistische Bewegungen stoßen. Linkspopulismus wie in Deutschland ist hierbei (noch) eher eine Ausnahme. In der weit überwiegenden Zahl der Länder handelt es sich um rechtspopulistische Bewegungen. Die Verankerung dieser Bewegungen in Stammwählermilieus der Linken hat zum Teil ein alarmierendes Ausmaß erreicht: Bei der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen 2002 gewann der Front-National-Vorsitzende Jean- Marie Le Pen bei den abhängig Beschäftigten mehr Stimmen als jeder andere Kandidat.

Die linke Mitte steht vor der Aufgabe, ein neues Projekt zu formulieren. Dieses Projekt muss sich von der einseitigen Wirtschaftsfixierung der technokratischen Reformprojekte befreien, ohne das Terrain der gesellschaftlichen Mitte aufzugeben. Dies kann keine Rückkehr zu den Konzepten der 70er und 80er Jahre sein. Notwendig ist vielmehr ein Projekt, das einerseits die gesellschaftlichen Ambitionen richtig interpretiert – dies war eine der großen Stärken der technokratischen Reformprojekte gewesen –, andererseits aber auch den wachsenden Befürchtungen in einer unübersichtlicher werdenden Welt gerecht wird. Es muss Schluss machen mit einer autoritären Belehrungskultur und anerkennen, dass eine Reihe von Entwicklungen der letzten Jahre für eine Vielzahl von Menschen eher negativ war. „We have talked about Sweden, not about Swedes“, erklärte ein ehemaliger schwedischer sozialdemokratischer Minister die Niederlage seiner Partei bei den letzten Wahlen. Will die linke Mitte wieder mehrheitsfähig werden, muss sie ihren Diskurs wieder in den Lebensrealitäten ihrer Wähler erden.

Dies bedeutet auch die Überwindung der ideologischen Tabus beim Megathema Immigration und Integration. Hier hat sich die Linke lange geweigert, den gesellschaftlichen Realitäten ins Auge zu sehen. Diese Weigerung hat erheblich dazu beigetragen, sie von Teilen ihrer Stammwähler zu entfremden und ein „window of opportunity“ für rechtspopulistische Bewegungen in traditionellen Arbeitnehmermilieus zu schaffen. Die Linke soll hier keineswegs ihre Seele verkaufen. Notwendig sind aber eine Abkehr von einem naiven Multikulturalismus und eine nüchterne Analyse: Wie jeder andere gesellschaftliche Prozess auch, bringt die Zuwanderung Kosten und Nutzen mit sich. Und diese sind ungleich über die Gesellschaft verteilt: Die Rütli-Schulen des Kontinents werden nicht von Kindern aller sozialen Milieus gleichermaßen besucht. Ähnlich wie die Linke in den 90er Jahren ihre Positionen beim Thema öffentliche Sicherheit in Einklang mit der gesellschaftlichen Befindlichkeit und Wirklichkeit gebracht hat, muss sie heute zu einem neuen Realismus in dieser Frage finden.

Darüber hinaus muss die Linke ihr Verhältnis zum Nationalstaat und zur Fragen nationaler Identität klarer fassen. Der Nationalstaat war in den vergangen 100 Jahren das zentrale Instrument der Linken, um ihre politischen und sozialen Ziele zu verfolgen. Bisher hat sich kein Ersatz für diese Rolle des Nationalstaats finden lassen. Die Hoffnung, dass in naher Zukunft die EU diese Rolle übernehmen kann, erscheint angesichts der politischen Kräfteverhältnisse in der EU-27 und der Interessenlage der neuen Mitgliedsstaaten als voreilig. Vieles deutet darauf hin, dass auch innerhalb des Handlungszusammenhangs der EU viele Menschen eine aktivere Rolle des Nationalstaates erhoffen. Die Kunst wird darin bestehen, den Nationalstaat positiv für sich zu reklamieren, gleichzeitig aber auch den Weg der europäischen Integration weiterzugehen.

Letztlich muss die Linke wieder zeigen, wo sie politische Gestaltungsräume im Interesse ihrer Wählerschichten schaffen und nutzen möchte. In den technokratischen Modernisierungsprojekten hatte sie den ökonomischen, fiskalischen und politisch-institutionellen Raum für explizit linke Politik weitgehend gesperrt. Angesichts wachsender sozialer Ungleichheit und blockierter Aufstiegschancen in den unteren und mittleren sozialen Schichten Europas wird dies so nicht bleiben können.

Gleichzeitig muss die linke Mitte wieder längerfristige gesellschaftliche Fragen diskutieren, und zwar nicht nur im Bereich der Ökologie. Bei aller Verunsicherung kann für die Mehrheit der Bevölkerung der westlichen Gesellschaften die „soziale Frage“ auf absehbare Zeit als weitgehend gelöst betrachtet werden. Postmaterielle Fragen werden daher einen großen Stellenwert behalten. Ein verengter Ökonomismus, der Fragen der Lebensqualität und -führung, der individuellen und kollektiven Entfaltungs- und Gestaltungsräume nicht aufgreift und politisch artikuliert, ist für diese Milieus nur begrenzt attraktiv.

Dasselbe gilt allerdings auch für eine rückwärtsgewandte Sozialstaatsnostalgie, die die politischen Herausforderungen auf soziale Probleme verkürzt und deren zentraler Bezugspunkt die „heile Welt“ der industriellen Moderne der sechziger und siebziger Jahre und deren männerdominierten Institutionen ist.

Angesichts des mit jeder Bilanzberichtigung weiter voranschreitenden Glaubwürdigkeitsverlusts des neoliberalen Diskurses (oder was von ihm geblieben ist) ist der Zeitgeist für die europäischen Linken an sich nicht ungünstig. Im Moment scheitert sie allerdings an ihrer Unfähigkeit, ein politisches Projekt zu formulieren, das den Lebensrealitäten ihrer Wähler entspricht. Bei der Suche nach einem solchen Projekt wird man die ausgetretenen Pfade des „Dritten Weges“ wohl verlassen und nach anderen Schneisen durch das Dickicht der neuen Unübersichtlichkeit suchen müssen.

Ernst Hillebrand

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