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Meinung: Europa und die USA: So nah und doch so fern wie nie

Laut Wörterbuch ist ein Jubiläum dasselbe wie ein Jahrestag. Der Begriff "Halbjahresjubiläum" wäre demnach unsinnig.

Laut Wörterbuch ist ein Jubiläum dasselbe wie ein Jahrestag. Der Begriff "Halbjahresjubiläum" wäre demnach unsinnig. Das Gedenken kennt diesen Rhythmus nicht. Trotzdem hält heute in den USA jeder inne. Im Fernsehen laufen Dokumentationen, in Betrieben sind Schweigeminuten angesetzt, der Präsident redet. George W. Bush wird die Nation an das Verbrechen vom 11. September erinnern und die weitere Strategie seiner Regierung im Kampf gegen den Terrorismus verkünden. Er wird versprechen, diesen Kampf fortzusetzen. Er wird die Amerikaner auf weitere Opfer vorbereiten und den Verbündeten sagen, dass Untätigkeit keine Option sein darf, wenn Diktatoren nach Massenvernichtungswaffen streben. Alle wissen, dass Bush damit Saddam Hussein meint. Vor sechs Monaten stürzten die beiden Türme des World Trade Centers zusammen, die Trümmer begruben dreitausend Menschen. Wie einschneidend dieses Ereignis die Amerikaner verändert hat, zeigt auch die Tatsache, dass das normale Gedenkintervall verkürzt wurde. Es gibt ein Halbjahresjubiläum.

Die Zwischenbilanz fällt positiv aus. Erstens wurde in Rekordzeit das Taliban-Regime in Afghanistan besiegt. Die eigenen Verluste waren minimal. Verglichen mit den zuvor beschworenen Horrorszenarien - amerikanisches Vietnam-Debakel, sowjetisches Afghanistan-Desaster - war die "Operation dauerhafte Freiheit" militärisch präzise und hocheffizient. Zweitens kam es nicht, wie befürchtet, zu einem Aufstand der "arabischen Massen". Sämtliche Jihad-Aufrufe von Osama bin Laden verhallten unerwidert. Die Regierungen von Pakistan und Saudi-Arabien, die der Al-Qaida-Chef eigentlich stürzen wollte, sind heute gefestigter denn je. Weitere Anschläge von verstreuten "Schläfern" konnten verhindert werden. Drittens hat es die Bush-Regierung verstanden, keinen nennenswerten Zweifel an der Gerechtigkeit ihrer Sache aufkommen zu lassen. Die Nato erklärte den Bündnisfall, Gerhard Schröders Gelübde einer "uneingeschränkten Solidarität" stand für die Haltung sämtlicher westlichen Regierungen. Noch nie war der Graben zwischen Amerika und Europa so schmal wie am 11. September.

Doch noch nie war dieser Graben so breit wie heute, ein halbes Jahr später. Hinter allen drei Erfolgen türmen sich immer mehr Fragezeichen auf. In Kabul herrscht eine fragile Interims-Regierung. Eine Ewigkeit wird vergehen, bevor deren Macht durch halbwegs stabile Strukturen, inklusive Polizei und Armee, gesichert werden kann. In der Zwischenzeit drohen sich im Land die alten Stammesfürsten wieder breit zu machen. Die Gefahr eines erneuten Bürgerkrieges ist noch längst nicht gebannt. Die "arabischen Massen" wiederum sind wegen der Eskalation im Nahen Osten im hohen Maße elektrisiert. Falls die Bush-Regierung weiter den Eindruck vermittelt, untätig oder im Zweifel auf Seiten Sharons zu sein, wird das arabische Verbundenheitsgefühl mit dem Schicksal der Palästinenser zunehmend in Hass auf Amerika umschlagen. Und schließlich die Moral: Warum es notwendig war, Al-Qaida und die Taliban zu bekämpfen, leuchtete ein. Im Falle des Irak dagegen verweigern die meisten Verbündeten bislang ihre Gefolgschaft.

Der transatlantische Dialog hat daher skurrile Züge angenommen. Auf beiden Seiten wird gedruckst. Kein Europäer formuliert eine klare Antwort auf die Frage, was gegen einen Despoten wie Saddam Hussein unternommen werden soll, der bestrebt ist, Massenvernichtungswaffen herzustellen. Da wird statt einer strategischen Analyse verlegen auf Spielregeln verwiesen, auf die UN und das Völkerrecht. Ein ernsthaftes Nachdenken über das Problem findet nicht statt. Kein Amerikaner dagegen ist bereit, die Grenzen seines Handelns zu definieren. Wie weit geht ihr, wann ist Schluss?, lauten die verständlichen Sorgen der Europäer. Die vage und pampige Auskunft - so weit und so lange, wie nötig - nährt diese Sorgen bloß.

Das Halbjahresjubiläum des 11. September bietet Anlass, auf das Erreichte stolz zu sein. Sich in dieser Pose zu genügen, hieße freilich, die List der Geschichte zu unterschätzen. Terroristen wollen die Welt radikalisieren und Menschen, die sich als Partner wähnen, auseinandertreiben. Ob Osama bin Laden das am Ende gelungen sein wird, ist noch offen.

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