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Meinung: Europa – vom Kopf auf die Füße

Die Verfassung ist ein Sammelsurium von Formelkompromissen Von Joachim Jens Hesse

Natürlich überwiegt die Erleichterung: Nach den desaströsen Wahlen zum Europäischen Parlament ist die Verabschiedung der europäischen „Verfassung“ der von der Politik herbeigesehnte Erfolg, selbst wenn das nach langen Verhandlungen konsensfähig gemachte „Produkt“ EUtypische Züge trägt: überkomplex, inkonsistent und rechtstechnisch schludrig, voller Kompromisse auf kleinstem, nicht selten widersprüchlichem Nenner. Die europäische Gemeinsamkeit war und ist brüchig, der von manchen als historisches Ereignis, ja als Gesamtkunstwerk gepriesene Vertrag erweist sich als das, was er realistischerweise wohl auch nur sein kann: Dokument der Chancen wie der Grenzen eines Integrationsprozesses, der zwischen historischem Auftrag, politischem Interesse und parvenuehafter Selbstdarstellung oszilliert – und dessen geräuschvolle Vermarktung die Völker Europas inzwischen eher abstößt als bindet.

Gemessen an den 2001 vereinbarten Zielen „Demokratisierung, Effizienz und Transparenz“ greift der Verfassungsvertrag entschieden zu kurz. Sieht man von den eher verkrampften Bemühungen ab, Selbstverständlichkeiten – wie die Europäisierung nationalstaatlich ohnehin verankerter Grundrechte – als Fortschritt zu feiern, benennt der Vertrag primär Anpassungs- und Ordnungsleistungen, ohne die die Handlungsfähigkeit der EU beeinträchtigt, ihre Erweiterung scheitern würde. Zwar verdient das europäische „Regierungssystem“ noch immer nicht die Bezeichnung „Gewaltenteilung“, doch dokumentiert die Auseinandersetzung um den neuen Kommissionspräsidenten, dass und wie sich das Kräfteverhältnis zwischen Rat und Parlament zu verschieben beginnt. Hier werden Politiken erkennbar, die eine kritische Öffentlichkeit seit langem fordert, und denen auch die Sichtbarkeit des Ratspräsidenten und die Inthronisierung eines Außenministers dienen. Nicht untypisch freilich, dass solche Ansätze gleich wieder konterkariert werden, sei es durch die Aufblähung der Kommission oder die absurde Vielfalt der Verfahren. Sie begünstigen eine oligarchische Willensbildung, fördern das Gewicht der Exekutiven und dürften in bürokratisches Wachstum münden.

Wer die Konsequenzen für einzelne Politikbereiche durchdenkt, wird feststellen, dass das seit Maastricht, Amsterdam und Nizza erkennbare Patchwork der Verträge in anderer Form Wiederauferstehung feiert. So gelang es trotz der Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen nicht, die Verfahren nachhaltig zu vereinfachen, wird die Umsetzung der Politik zum Spielfeld von Spezialisten – und einer sich selbst überlassenen Kommission. „Verfassung“, ein Dokument also, das den Bürgern Europas einen (verständlichen) Rahmen und ein (nachvollziehbares) Programm bietet, ist dieser Vertrag sicher nicht. Auch erhöht er den Konsensbedarf, dehnt Koordinations- und Abstimmungserfordernisse weiter aus, ermuntert zu Blockaden, die Vertretern von Föderalstaaten nur allzu bekannt sind.

Von „historischer Bedeutung“ ist der Verfassungsvertrag also nicht, er dürfte sich im Alltag nicht einmal als „wetterfest“ erweisen. Sobald die grundlegenden Ordnungsleistungen vollzogen sind, muss sich der Vertrag als Arbeitsgrundlage bewähren, wird auf Konkretisierung zu drängen sein.

Erst in diesem Praxistest wird sich erweisen, ob die vielfältigen Formelkompromisse taugen. Weiterer Anpassungs- und Reformbedarf ist dabei vorgezeichnet, nicht nur im Rahmen der Union, sondern auch auf der Ebene der Mitgliedstaaten. Die EU zu professionalisieren, sie gleichsam vom Kopf auf die Füße zu stellen, ist die Aufgabe der kommenden Jahre. In ihr wird sich entscheiden, ob sich Europa bewährt oder ob Überforderung wie Überdehnung zu Strukturmerkmalen des Integrationsprozesses werden.

Der Autor ist Vorstandsvorsitzender des Internationalen Instituts für Staats- und Europawissenschaften (ISE) in Berlin; er war beratend am Prozess der Verfassungsgebung beteiligt.

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