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Europäische Union: Spinner, Träumer, Bürokraten

Die EU muss warten: Für das "Nein" gegen den Lissabon-Vertrag hatten wir Iren gute Argumente.

Vor ein paar Wochen rief mich ein prominenter irischer Politiker an und fragte, ob ich bereit wäre, an einer Pressekonferenz teilzunehmen, an der namhafte Schriftsteller ihre Unterstützung für den Lissabonner Vertrag ausdrückten. Er erwähnte seinen Rückhalt für „das europäische Projekt“ und fügte hinzu, er unterstelle, dass ich auch für das Projekt im Allgemeinen und den Vertrag im Besonderen sei.

Nun war ich zwar bereit, für den Vertrag zu stimmen, aber es war mir klar, dass es nahezu unmöglich war, ihn öffentlich zu verteidigen, vor allem wenn es Kommentare von Gegnern gäbe. Der Vertrag war unlesbar; er war voller juristischer Fachausdrücke und Querverweise auf andere Verträge. Er war nicht in der Absicht entworfen worden, dass er normalen Stimmbürgern verständlich sei. In 26 Ländern konnte er durch Politiker ratifiziert werden, die den Anweisungen ihrer Anführer folgten. Aufgrund unserer Verfassung mussten wir ein Referendum abhalten.

Der Vertrag war ein Geschenk des Himmels für jeden Spinner in Irland, auf der Linken wie auf der Rechten. Er würde Irlands Souveränität unterspülen, behaupteten sie; er könnte die Abtreibung einführen; er könnte unsere niedrige Körperschaftsteuer beeinträchtigen, die so viele Investitionen anlockte; er könnte Irlands militärische Neutralität aushöhlen. Er würde gesichtslosen Bürokraten noch mehr Macht geben.

Die Gegner umfassten Sinn Fein und die katholische Rechte, aber auch ganz Linke. Wegen unserer Referendumsgesetzgebung musste RTE, der nationale Sender, Befürwortern und Gegnern gleich viel Platz einräumen. Daher befanden sich Politiker wie jener, der mich anrief, in der Lage, dass Leuten ohne jeglichen Wählerrückhalt enorme Freiräume im Äther gewährt wurden, um neben seriösen Vorbehalten gegenüber dem Lissabon-Vertrag Angst und Desinformation zu verbreiten.

Die vier wichtigsten politischen Parteien unterstützten den Vertrag, aber ungeschickt. Politiker hängten im ganzen Land Plakate mit Porträts ihrer selbst auf, mit einem winzigen Aufruf, Ja zu stimmen. Das wirkte wie eine erbärmliche Übung in Eigenwerbung. Dazu kam, dass der Vertrag komplex ist und nicht auf süffige Formeln reduziert werden kann.

Kein Politiker konnte den Wählern versprechen, dass Lissabon ihnen in einer genauen oder spezifischen Art und Weise nützen würde; stattdessen mussten die Befürworter den größten Teil ihrer Kampagne damit verbringen, abzustreiten, dass der Vertrag die obligatorische Militärpflicht, Abtreibung, Sterbehilfe oder höhere Steuern bringen werde. Ich war erstaunt, als der Politiker, der mich anrief – ein ziemlich liberaler Bursche –, mir so leichthin seine Unterstützung für „das europäische Projekt“ versicherte. Seine Partei war in den siebziger Jahren an der Macht gewesen, als Irland von der Europäischen Kommission widerstrebend gezwungen wurde, gleichen Lohn für Frauen einzuführen. Er war an der Macht, als Irland sich gegen die Entkriminalisierung der Homosexualität sträubte und vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof dazu gezwungen werden musste.

Ich unterstütze das europäische Projekt als ein Mittel, mich vor irischen Politikern zu schützen. Ich stimmte nicht für Lissabon, weil ich dem Establishment folgte, sondern weil ich es verachte und davor beschützt werden muss.

Die Niederlage des Lissabon- Vertrags war nicht eine einzige Meuterei der schweigenden Mehrheit Irlands. Es waren 20 verschiedene Meutereien. So stimmten alle Gegenden, die von der Fischerei abhängig sind, wuchtig gegen den Vertrag. Arbeiterquartiere in den Städten stimmten dagegen. Rechtsstehende Katholiken stimmten dagegen. Altmodische irische Nationalisten stimmten dagegen. Ländliche Wähler stimmten dagegen. Gewisse reiche Wirtschaftskreise stimmten dagegen.

Aber es stimmt auch, dass manche Stimmbürger in Irland, genau wie ihre Vettern in Frankreich und den Niederlanden, die gegen den Verfassungsvertrag stimmten, sich ernsthaft um das demokratische Defizit in Europa sorgen.

Das Fehlen von Rechenschaftspflicht und Transparenz bei der Entscheidungsfindung weckt tiefes Misstrauen gegenüber einem stärker zentralisierten Europa.

Es ist plausibel, dass dieser Vertrag in vielen europäischen Ländern verworfen worden wäre, wenn er einer Volksabstimmung ausgesetzt worden wäre.

Es ist schade, dass jene, die den Vertrag entwarfen, die Ängste nicht berücksichtigten, die unter den einzigen Wählern geweckt würden, die darüber abstimmen mussten, und dass sie nicht versuchten, ihnen zu begegnen. Die irische politische Führung tat dies gewiss nicht. Es war aber auch nicht einfach.

Der Autor ist einer der angesehensten Gegenwartsautoren Irlands und lebt in Dublin. Übersetzung: Martin Alioth.

Colm Tóibín

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