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Europas Herausforderungen: Gefordert ist eine europäische Gestaltungspolitik

Europa muss sich auf sich selbst besinnen und seine Ortsbestimmung in einer neuen Weltordnung mit neuen Kraftzentren vornehmen. Gerade jetzt könnte die EU die Türkei gut gebrauchen.

Die Finanzminister haben entschieden: Die nächste Zahlung an Griechenland wurde freigegeben. Eine notwendige Entscheidung. Die Diskussion geht weiter, was angesichts der Summen, um die es geht, mehr als verständlich ist. Während die einen sich im Dickicht der währungspolitischen Optionen verlieren, stellen die anderen verdeckt oder offen den Euro infrage, so als sei ihnen nicht bewusst, dass es um Europa geht, also um alles. Es wird nicht ausreichen, sich von Krise zu Krise zu schleppen. Europa muss sich auf sich selbst besinnen und seine Ortsbestimmung in einer neuen Weltordnung mit neuen Kraftzentren vornehmen und daran seine Perspektiven ausrichten.

Erforderlich ist: 1. künftige Fehlentwicklungen zu verhindern; 2. Europa zu befähigen, die Herausforderungen unserer Zeit zu bestehen; 3. Europas Vorstellungen von der Gestaltung der neuen Weltordnung zu definieren.

Gefordert ist also nicht Krisen- und Problemverwaltungspolitik, sondern europäische und globale Gestaltungspolitik. Muss sich nicht Europa als Zusammenschluss gegenseitig abhängiger, interdependenter Staaten als Zukunftslabor einer künftigen Weltordnung verstehen? Wer also ist zum Handeln aufgerufen? Ganz sicher die Mitgliedstaaten und genauso die europäischen Institutionen: die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank und das Europäische Parlament. Wo sind die Initiativen des Europäischen Parlaments, mit denen es zögernde, in alten Vorstellungen befangene Mitgliedstaaten zum Handeln bewegen kann. Die großen Erfolge des europäischen Einigungsprozesses waren möglich, weil sich die Europäische Gemeinschaft/Europäische Union neuen Herausforderungen gestellt hat. Das ist die Stunde Deutschlands und Frankreichs. Momentane Gegensätze dürfen daran nicht hindern, sie müssen ohnehin überwunden werden, soll Europa vorankommen. Alles spricht dafür, das Weimarer Dreieck wirken zu lassen und eine europäische Initiative zusammen mit Polen zu entwickeln. Polen gibt ein eindrucksvolles Beispiel der Entwicklung von einer sozialistischen Wirtschaft oder besser gesagt Misswirtschaft hin zu einer kraftvollen sozialen Marktwirtschaft. Wer wagt es noch, das ebenso hochmütige wie verächtliche Wort von der sogenannten „polnischen Wirtschaft“ in den Mund zu nehmen? Das polnische Modell ist beispielgebend – in Europa und weltweit.

Deutschland und Frankreich haben allen Anlass, die Avantgarde bei der Durchsetzung der Vereinbarungen in der Währungsunion zu werden, nachdem sie in der Vergangenheit selbst gesündigt und auch noch stärkere Kontrollmöglichkeiten zum Beispiel für Eurostat verhindert haben. Sie sollten sich zusammen mit Polen auch dafür einsetzen, jene Mängel in der Währungsunion zu beseitigen, die von deren Gegnern in Deutschland bei ihrer Einführung durchgesetzt wurden. Wir brauchen Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik und institutionelle Vorrichtungen für ihre Durchsetzung. Der Präsident der EZB, Jean- Claude Trichet, hat das Notwendige in Aachen dazu gesagt. Wo bleibt die Initiative für eine europäische Rating-Agentur?

Wenn es darum geht, Europa zu stärken, wenn über die Schwäche seiner Mitgliedstaaten geklagt wird, liegt es dann nicht nahe, was in diesen Tagen der deutsche Außenminister genauso überzeugend fordert, wie ein zukunfts- und fortschrittsorientierter Wirtschaftsmann, nämlich die Aufnahme einer starken dynamischen Volkswirtschaft, wie die Türkei es ist, zu forcieren und nicht in ideologischer Befangenheit zu hintertreiben. Berlin und Paris sollten sich auf ihre europäische Verantwortung besinnen und auch auf die weltoffene Tradition der EU. Europa braucht eine europäische und globale Gestaltungspolitik. Die globale Entwicklung in der Welt der Interdependenz geht weiter. Wie sie verläuft, hängt auch, ja hängt ganz besonders ab vom Willen und von der Gestaltungsfähigkeit der EU. Sind die Völker Europas wirklich europamüde oder ist es vielleicht so, dass sie darauf warten, dass Europa wieder vom Verwalten zum Gestalten findet? Auch Perspektivlosigkeit kann ermüden.

Der Autor war von 1974 bis 1992 Außenminister.

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