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Meinung: Europas Seelen

Ein deutsch-türkisches Drama gewinnt den Europäischen Filmpreis. Was ist gewonnen?

Erst Altona, dann Istanbul. Erst Lebenswut, dann Herzhitze. Erst der Furor, dann die Zärtlichkeit – und die Gewalt, die der Liebe keine Chance lässt: „Gegen die Wand“ von Fatih Akin, dem frisch gekürten Gewinner des Europäischen Filmpreises und des Publikumspreises dazu, ist ein in sich zerrissener Film. Schöne Koinzidenz: Ebenso widersprüchlich und zerrissen gestaltet sich die Debatte vor den EU-Gipfelberatungen über den Beitritt der Türkei.

Im Februar, nach seinem Berlinale-Überraschungserfolg, hatte Fatih Akin, der türkischstämmige Filmemacher aus Hamburg, noch vehement für den EU-Beitritt der Türkei plädiert. Jetzt, bei der Filmpreisgala in Barcelona, sprach er zurückhaltender davon, dass eine seiner zwei Staatsbürgerschaften „nicht europäisch“ sei. Ist ja auch wahr: Wenn das deutschtürkische Kino, diese Frischzellenzufuhr für die Traumfabrikate made in Germany, endlich in der Mitte Europas ankommt, wenn deutsche, türkische, französische, italienische und spanische Zuschauer ihn zum Publikumsliebling küren, dann sagt das noch lange nichts über Demokratie und Reformprozess in der Türkei, über all das, worum derzeit so heftig gestritten wird. In Brüssel wird nicht in erster Linie über die Annäherung zwischen dem Westen und dem Islam entschieden, nicht über Krieg und Frieden der Kulturen, sondern über politische Normen. Die privilegierte Partnerschaft, kulturell existiert sie längst.

Und doch verrät der Siegeszug von „Gegen die Wand“, diesem wilden Liebesdrama zweier heimatloser Migrantenkinder, eine Menge über Europa. Über seine kollektiven Fantasien, über Zukunftsträume und Gegenwartsängste. Der Zuschauer hätte zu gern, dass eine Kinogeschichte einfach im Hamburger Hafenkiez anheben und am Bosporus ein gutes Ende nehmen kann. Er wünscht sich von Herzen, dass die beiden sich kriegen, allen widrigen Realitäten zum Trotz. Und er beneidet als gemäßigt temperierter Nordeuropäer das Liebespaar Cahit und Sibek um dessen Radikalität. Ist er nicht toll, dieser Gefühlsberserker Cahit in seiner Wildheit und Wut? Aber er schreckt uns auch: Die Brutalität in „Gegen die Wand“ überschreitet die Grenzen der Zivilisiertheit. Geht’s nicht vielleicht doch ein bisschen zahmer?

Und Sibek: Ist sie nicht toll, wie sie den muslimischen Familientraditionen trotzt und sich als Frau einfach westliche Freiheiten nimmt? Aber muss es gleich so eine ungezügelte Lebenslust sein, so ein sinn- und hemmungsloser Rausch? So war das mit der Gleichberechtigung auch wieder nicht gemeint.

Anders als die Politik kann das Kino, kann die Kunst romantische Sehnsüchte und dumme Ressentiments in Szene setzen, sich mit ihnen herumschlagen, sie herzeigen, ausspielen, verwerfen. Ein Europa, das seine Grenzen öffnen und sich ausdehnen will, das sich Toleranz und Respekt gegenüber Andersdenkenden, anders Lebenden auf die Fahnen schreibt, kommt nicht umhin, sich diesen ureigenen Ängsten und Traumata zu stellen. Das wussten nach dem Zweiten Weltkrieg schon die italienischen Neorealisten oder, in den Neunzigern, Emir Kusturica, auch so ein Berserker aus der Balkanregion.

„Gegen die Wand“ ist ein Symptom der Differenzen – und der Annäherung Europas. Schön, dass ausgerechnet die jüngsten deutschen Erfolgsfilme zu seiner Selbstverständigung beitragen, einen vielstimmigen, auch vergnüglichen Dialog anzetteln – mit offenem Ausgang. „Good Bye, Lenin!“ sorgte in allen Ländern, die sich mit der Überwindung alter Systeme plagen, für Gesprächsstoff. Und „Die fetten Jahre sind vorbei“, Hans Weingartners Film über die alte und die neue Protestgeneration, hat seine Reise ins Ausland auch schon angetreten. „Gegen die Wand“ sei ein deutscher Film mit türkischer Seele, hat Fatih Akin gesagt. Die Migranten, die Ostwestler, die Attac-Jugend: Europa hat viele Seelen.

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