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Exotische Helden oder Gastarbeiter: Ideologische Grabenkämpfe erschweren die Integrationsdebatte

Beim Umgang mit den Türken befällt die Deutschen eine merkwürdige Realitätsblindheit. Ein Gastkommentar.

Es muss irgendwann Mitte der 90er Jahre gewesen sein. In einer Warteschlange auf dem Frankfurter Flughafen stand ein junger türkischstämmiger Feuerwehrmann und sprach angeregt mit seinem deutschen Freund. Doch was heißt hier „sprechen“? Der Bub babbelte derart perfekt auf original Frankfurterisch drauflos, als hießen seine Eltern Heinz Schenk und Lia Wöhr, die Wirtin aus dem „Blauen Bock“.

In diesem Augenblick war mir klar: Das war’s mit der Integration. Problem gelöst, Thema erledigt. Toll. Wenn schon die zweite türkische Einwanderergeneration lokale Sitten und Gebräuche annimmt, was wird dann erst die dritte tun? Frankfurter Würstchen mit Sucuk kreuzen und oberhessische Trachtenumzüge organisieren?

Wer in den 70er Jahren in Frankfurt am Main aufwuchs, dem mochte diese Vorstellung gar nicht mal so abwegig erscheinen. Die alte Industrie- und Bankenmetropole hatte schon früh Einwanderer angezogen, und als vor 50 Jahren die ersten türkischen Arbeiter kamen, trafen sie auf Italiener, Spanier und Portugiesen, die ihre ersten Cafés gerade eröffnet hatten. So fremd sie manchem Einheimischen erscheinen mochten – man gewöhnte sich recht schnell aneinander. Lange, bevor das Wort zum Programm erhoben wurde, schälte sich schon der Kern einer de facto multikulturellen Gesellschaft heraus.

Die ehemals freie Reichs- und Kaiserkrönungsstadt, in der 1848 das erste frei gewählte deutsche Parlament getagt hatte, beherbergte damals bereits Zehntausende amerikanische Soldaten, die auch nicht gerade mit Handkäs’ groß und stark geworden waren. In den 80er Jahren, als nach dem Anwerbestopp für „Gastarbeiter“ schon wieder „Rückkehrprämien“ bezahlt wurden, waren mehr als 25 Prozent der Frankfurter ausländischer Herkunft (heute haben fast 40 Prozent einen „Migrationshintergrund“), und wer im Bahnhofsviertel wohnte, konnte beobachten, wie die türkische Community ganze Straßenzüge übernahm. Friedlich, versteht sich. In der Münchener Straße etwa gab es bald fast nur noch türkische Läden, Banken und Restaurants, Hinterhofmoscheen und Wettbüros. Einsam hielt „Feinkost Schenck“ die Stellung, doch o Wunder, es gab keine größeren Probleme, selbst wenn eine kurdische PKK-Demo lautstark unterm Fenster vorbeizog oder beim alljährlichen Opferfest Hunderte von Gläubigen den kompletten Verkehr zum Erliegen brachten.

Jenseits des Rotlicht- und Drogenmilieus herrschte eine urbane Normalität von leben und leben lassen. Der „Gemüsetürke“ war um die Ecke, man grüßte sich und hatte sonst nicht viel miteinander zu tun. Das musste ja auch nicht sein. Wir mussten nicht den Koran auswendig lernen und sie nicht das Matthäus-Evangelium. Hier half nicht nur die großstädtisch-tolerante Grundhaltung, sondern auch eine wirtschaftliche Dynamik, die den allermeisten Beschäftigung und Unterhalt bescherte.

Gewiss, mangelnde Deutschkenntnisse, Goldkettchenmachogehabe und der unverkennbare Hang zu Großfamilie und Clan irritierten uns zuweilen. Nicht zuletzt auch das merkwürdige Frauenbild. Aufgebracht berichtete die deutsche Friseurmeisterin in der Kaiserstraße, während sie mir den Faconschnitt verpasste, von ihrer jungen begabten türkischen Auszubildenden, die ihr Bruder eines Tages auf Nimmerwiedersehen aus dem Laden schleppte. Doch unser Glaube an die Selbstheilungskräfte einer fortschrittlichen Gesellschaft war stark. „Heimat Babylon“ ante portas. Alles würde gut. Irgendwie. Den Rest regelt das „Amt für multikulturelle Angelegenheiten“, das Daniel Cohn-Bendit 1989 aus der Taufe gehoben hatte.

Heute, fast eine Generation später, fällt die Bilanz ernüchternd aus. Lesen Sie weiter auf Seite 2.

Heute, fast eine Generation später, fällt die Bilanz ernüchternd aus. Inzwischen leben fast drei Millionen türkischstämmige Bürger mit und ohne deutschen Pass in der Bundesrepublik, doch auch nach einem halben Jahrhundert ist Integration kein Selbstläufer geworden, kein gleichsam naturwüchsiger Prozess. Die euphorischen Straßenfestfantasien von einst haben einer teils quälenden Dauerdiskussion über Parallelgesellschaften und Zwangsheiraten, fehlende Bildung, Sprachprobleme, Hartz IV als „Beruf“, die Scharia und jugendliche Gewaltkriminalität Platz gemacht.

Schon kommunikationstechnisch herrscht überwiegend Durchzug. Etwa 80 Prozent der Deutschtürken konsumieren ausschließlich türkischsprachige Medien, unter den Frauen sind es weit über neunzig Prozent. Die Folge: Ein „interkultureller“ Diskurs kann so gar nicht zustande kommen. Nicht zuletzt deshalb kam es zu der ebenso absurden wie paradoxen Situation, dass die allermeisten türkischen „Deutschländer“, wie sie in Istanbul genannt werden, von der monatelangen „Sarrazin-Debatte“ gar nichts mitbekamen. Nur ganz wenige eloquente, meist bildhübsche Akademikerinnen vertraten in den Talkshows überhaupt jenen Teil der Bevölkerung, der Gegenstand des Streits gewesen war.

In einer aktuellen Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung wird ein insgesamt eher unfeierliches Resümee gezogen: Von allen Einwanderergruppen seien türkische Migranten „mit Abstand am schlechtesten integriert“. 30 Prozent von ihnen sind ohne jeden Schulabschluss, die Arbeitslosigkeit ist entsprechend hoch. In Berlin beträgt sie ganze 42 Prozent. So liegt auch das Armutsrisiko der türkischstämmigen Bevölkerung weit über dem Schnitt, auch wenn seit ein paar Jahren mehr türkische Bürger Deutschland verlassen als einwandern. Im Jahr 2010 betrug der Saldo 28 600. Signifikant ist noch eine andere Zahl: Die Zahl der Suizidversuche junger Türkinnen ist fünfmal höher als im sonstigen Durchschnitt der weiblichen Bevölkerung.

Wer aber ist nun schuld, dass die ganz große Feierstimmung zum 50-jährigen Jubiläum nicht aufkommen will? Die Deutschen oder die Türken, die Einwanderer oder das Einwanderungsland? Liefern die Migranten ihre „Bringschuld“ nicht ausreichend ab, oder fehlt es an Anerkennung, Engagement und „Respekt“ der Deutschen gegenüber den Migranten? Es ist wie in einer Beziehungskiste: Im Zweifel ist es immer der andere, der zu wenig tut.

Doch wer ist eigentlich der andere? Sind nicht viele Türken längst deutsche Staatsbürger? Und leben sie nicht seit Jahrzehnten im Land von Weißbier und Bundesligaschlusskonferenz? Nicht wenige von ihnen sind bestens ausgebildete Ärzte, Anwälte, Bundestagsabgeordnete, Ministerinnen und Manager, die sich inzwischen darüber beklagen, dass ihr urgermanischer Nachbar vom zweiten Stock sie immer noch fragt: „Na Herr Özgür, haben Sie gehört, was Ihr Premierminister Erdogan neulich losgelassen hat?“ „Nein“, kommt dann zurück, „meine Bundeskanzlerin heißt Angela Merkel.“

Das deutsch-türkische Kuddelmuddel in Sachen „Identität“, das sich schon in all den sprachlichen Unbeholfenheiten – vom „Migrationshintergrund“ bis zum „türkischstämmigen Oberschwaben mit nordfriesischem Elternteil“ – manifestiert, ist auch mit gut gemeinten politischen Entscheidungen kaum aufzulösen. Seit dem 1. Januar 2000 erhalten in Deutschland geborene Kinder türkischer Migranten mit dauerhafter Aufenthaltserlaubnis automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft, die seit 2005 auch erwachsene Einwanderer erwerben können, freilich unter Aufgabe der türkischen.

Warum aber spricht Erdogan dann immer noch von „meinen türkischen Staatsbürgern“, die nun auch noch mit einer aufgewerteten „blauen Karte“ an Wahlen in der Türkei teilnehmen dürfen, obwohl sie nur den deutschen Pass besitzen?

Türkischstämmigen Migranten sind die Opfer, die Deutschen aber – zumindest potenzielle – Täter. Dieser moralische Paternalismus hat die Debatte lange erschwert. Lesen Sie weiter auf Seite 3.

Ganz anders die Autorin Iris Alanyali, die ausdrücklich bekennt, dass sie „nicht zwischen den Stühlen“ sitze: „Ich habe es mir auf einem breiten deutschen Sofa mit ein paar orientalischen Kissen sehr bequem gemacht.“ Wenn Selbstironie zugleich Souveränität bedeutet, dann repräsentieren auch Kabarettisten wie Bülent Ceylan, Kaya Yanar und Django Asül eine gelungene Integration, die den Begriff selbst schon wieder alt, fast lächerlich aussehen lässt. Sie sind ein herausragender Teil der deutschen Kabarettszene, so wie Fatih Akin ein prominenter Repräsentant der deutschen Filmkultur ist und Feridun Zaimoglu ein prägender Kopf der deutschen Literatur, der Kiel mehr liebt als manch strohblondes Nordlicht.

Unvergessen auch, wie türkische Jugendliche im Juli 1990 nach dem WM-Triumph der deutschen Fußballnationalmannschaft in Rom mit schwarz-rot-goldenen Fahnen jubelnd über den Ku’damm zogen. Eine Sache übrigens, die vielen linken Deutschen damals noch suspekt war. Ähnlich war es zuletzt 2008 und 2010, als selbst in Kreuzberg und Neukölln ein deutsch-türkischer Fußballpatriotismus ausgebrochen war, der die Weltsicht der ansässigen Autonomen zutiefst erschütterte.

Warum aber gilt dann Mesut Özil bei deutsch- türkischen Jugendlichen als „Verräter“, nur weil er sich für die deutsche Nationalmannschaft entschieden hat? Warum sagt ein junger Mann am „Kotti“ in eine Fernsehkamera: „Ich werde nie ein Deutscher sein!“? Der deutsche Pass sei „nur Papier“, gerade gut für Reisen und die Disco. Welche psychosoziale Leerstelle wird mit diesem verqueren Nationalstolz vieler Migrantenkinder gefüllt, die das Land ihrer Mütter und Väter meist gar nicht kennen?

Viele von uns glaubten: Je länger die verschiedensten Nationalitäten, darunter als größte die türkische, in Deutschland leben würden, desto mehr würde sich alles zurechtrütteln und -schütteln, abschleifen und vermischen. Natürlich war nicht „Assimilation“ das Ziel, sondern Integration. Niemand sollte seinen religiösen Glauben aufgeben oder seine Herkunft verleugnen, im Gegenteil. Viele Deutsche schwärmten geradezu von jenen Ländern, aus denen die Migranten kamen. Das eigene Land hingegen erschien grau und spießig, starr und autoritär, dazu mit einer Nazi-Vergangenheit geschlagen, angesichts derer jede ausländerfeindliche Äußerung sogleich auf mörderischen Rassismus, Krieg und Holocaust verwies.

Diese durchaus verständliche Haltung wenige Jahrzehnte nach Auschwitz kulminierte jedoch allzu oft in einer linksromantischen Inländerfeindlichkeit, aus der schließlich jene eigentümliche Realitätsblindheit entstand, die bis heute die Debatte erschwert. Eine merkwürdige Gleichgültigkeit gegenüber problematischen Aspekten der multikulturellen Gesellschaft korrespondiert dabei mit der Metaphysik eines moralischen Paternalismus, dessen ideologischer Kern lautet: Vor allem die türkischstämmigen Migranten müssen vor der bösen, tendenziell rassistischen deutschen Gesellschaft geschützt werden. Sie sind die Opfer, die Deutschen aber – zumindest potenzielle – Täter. „Ali“ scheint immer noch, wie zu Wallraffs Zeiten, „ganz unten“ zu sein, Objekt politischer Solidarität der Wohlmeinenden, aber kein Subjekt freier Entscheidungen. Auch so kann man Zustände festschreiben, die schon längst im Fluss sind.

Geradezu spiegelbildlich dazu verhielt sich über Jahrzehnte die eher konservativ-rechtsorientierte Seite. Sie negierte einfach die Tatsache, dass spätestens im Laufe der 70er Jahre Deutschland zum Einwanderungsland geworden war. Auch wenn das Gros der türkischen Gastarbeiter selbst ursprünglich nur für ein paar Jahre bleiben wollte – die Wirklichkeit sah anders aus. Und so schlug der deutsche Hang zur romantisch grundierten Wirklichkeitsverdrängung in beide ideologische Richtungen aus: Die Linken verklärten die Migranten zu exotischen Helden einer Befreiung vom deutschen Spießertum, die Rechten aber malten das angstgetriebene Feindbild einer Überfremdung an die Wand, an deren Ende Chaos und Untergang stünden. Offene Ausländerfeindlichkeit wurde lange klein- und schöngeredet, was wiederum den Linken die Möglichkeit gab, überall Rassismus und Faschismus zu wittern nach dem Brecht’schen Motto: „Der Schoß ist fruchtbar noch …“

Unter die Räder kam bei alldem der sprichwörtliche deutsche Pragmatismus – der nüchterne Blick auf die Probleme, die zu lösen sind. Er würde sich gut mit der sprichwörtlichen türkischen Tüchtigkeit ergänzen. Man muss ja nicht gleich beim Ebbelwoi fraternisieren.

Der Autor hat 14 Jahre lang als Kulturredakteur für „Spiegel“ und „Spiegel-Online“ gearbeitet. Er lebt in Prenzlauer Berg. Zuletzt ist von ihm das Buch „Meide deinen Nächsten – Beobachtungen eines Stadtneurotikers“ (wjs- verlag) erschienen.

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