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Fall Eren Keskin: Richter ohne Recht

Ein halbes Jahr Haft für eine politische Meinungsäußerung - das stößt ab, in jeder Hinsicht. Der Wunsch der Türkei, in die EU aufgenommen zu werden, wirkt vor dem Hintergrund des Urteils gegen Eren Keskin unverständlich. Denn die Strafe für die Trägerin des Aachener Friedenspreises ist eines demokratischen Rechtsstaats absolut unwürdig. Ein Kommentar von Lorenz Maroldt.

Ist der Fall Keskin also ein weiteres Indiz dafür, dass die Türkei in der Europäischen Union nichts zu suchen hat? Das Verfahren hat tatsächlich eine europäische Dimension - aber eine etwas andere, als die eilfertigen Verfechter einer türkeifreien EU unterstellen. Das Urteil gegen die Menschenrechtlerin Keskin ist, bei aller gerechten Empörung, kein Vergehen der türkischen Regierung oder gar der Türkei, sondern ein Skandal der dortigen Justiz. Das zu trennen, gehört zur Grundlage unseres rechtsstaatlichen Verständnisses und entspricht auch der Lage in der Türkei.

Der Paragraf 301, der die Grundlage war zur Verurteilung Eren Keskins, soll das Türkentum schützen, aber auch die Kritik am Staat. Dieser Paragraf wird jedoch von der stark kemalistisch geprägten Justiz, die sich dem Militär mehr verbunden fühlt als der Regierung, immer wieder auf obszöne Weise missbraucht. Eigentlich gibt es den Paragrafen 301 wegen der Europäischen Union; der türkische Gesetzgeber folgt den EU-Maßgaben zur Stärkung der Bürgerrechte mit dem Ziel des Beitritts. Die Richter aber wenden den Paragrafen ignorant gegen die EU, indem sie die zulässige Kritik am Staat zu einer Schmähung des Türkentums umdefinieren und damit gegen Grundsätze der europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen. Der Versuch, das Gesetz deshalb zu reformieren, scheiterte bisher an den nationalistischen Kräften, die es zwar auch in der Regierung gibt, aber besonders vom Militär repräsentiert werden.

Keskin hatte in ihrem Tagesspiegel-Interview gesagte, keine türkische Zivilregierung könne ihr Programm gegen die Militärs durchsetzen. Ihre Verurteilung, ausgelöst durch eine Anzeige des Generalstabs der türkischen Armee, ausgesprochen durch ein militärisch-nationalistisch gesinntes Gericht, bestätigt Keskins Behauptung auf bizarre Weise.

Es ist also nicht die Türkei als solche das Problem, sondern deren Justiz, und auch nicht ein bestimmtes Gesetz, sonderen dessen sinnwidrige Anwendung. Gesetze zum Schutz staatlicher Institutionen vor Schmähung gibt es ja auch in vielen anderen europäischen Ländern - in Deutschland zum Beispiel. Die Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole kann einen hier genauso ins Gefängnis bringen. Aber anders als in der Türkei ist es in den meisten Ländern weder üblich, noch so leicht möglich, das Gesetz aus politischen Gründen zu beugen.

Der Fall Keskin verleitet zu einem Kurzschluss - wie es auch schon im Fall Marco war. Als der deutsche Schüler wegen einer bis heute nicht aufgeklärten Bettgeschichte mit einer minderjährigen Britin monatelang in türkischer Untersuchungshaft saß, war das für manche ein Anlass, der Türkei die Beitrittsfähigkeit zur EU abzusprechen. So ist es nun wieder - das stärkt die Nationalisten. Was Menschenrechtsaktivisten wie Eren Keskin künftig vor Verfolgung und Strafe schützen kann, ist aber nicht die Abwendung Europas von der Türkei, sondern die Anwendung europäischer Standards in der Türkei. Ein möglicher Weg dorthin führt nun mal über Brüssel.

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