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Meinung: Fasst euch!

Kein Widerspruch gegen diesen Weg zu Neuwahlen? Doch – ein polemischer

Ja, nun wird gewählt. Kein Widerspruch, nirgends. So wird also Gerhard Schröder am 1. Juli das Parlament um Vertrauen bitten – und damit das Hohe Haus zum Komödienstadl machen und den Bundespräsidenten zum Helfer. Denn der Kanzler will das Vertrauen gar nicht, um das er wirbt – spräche es ihm seine Koalition aus, wozu sie ja die Mehrheit hätte, wäre die ganze Operation geplatzt. Er will, er braucht Misstrauen. Ablehnung. Die Koalition muss also verbergen, dass sie eine Mehrheit hat. Und wenn Schröder daraufhin den Horst Köhler ersucht, den Bundestag aufzulösen, muss das arme Staatsoberhaupt so tun, als wisse es nicht, dass die Stimmabgabe getürkt ist. Denn sonst dürfte er den Bundestag nicht auflösen und müsste Neuwahlen verhindern.

Und keiner meldet Bedenken an? Sieht wenigstens ein Problem? Das geplante Vorgehen ist ja nicht nur eine Groteske. Es widerspricht auch eklatant dem Willen der Verfassung, nach dem so lange regiert werden soll, wie eine Mehrheit im Bundestag vorhanden ist. Da das der Fall ist, kommt das gewählte Verfahren auf eine Vergewaltigung der Verfassung heraus. Ein Neuwahl-Beschluss kann dagegen nur ins Feld führen: erstens das Faktum, dass alle Neuwahlen wollen, von denen ja auch zumindest eine Klärung der verfahrenen politischen Situation zu erhoffen ist. Und, zweitens, die Findigkeit der Juristen. Haben sie nicht, an der Spitze das Bundesverfassungsgericht, in langen, klugen Ausführungen herausgefunden, dass dieser Weg zu Neuwahlen durchaus mit dem Grundgesetz vereinbar ist?

Ja, das haben sie, und ihre Beweisführung bringt ernst zu nehmende Gründe vor. Aber sie ähnelt doch sehr einer verfassungspolitischen Extrem-Kletterei, die die Widerstände, die unsere Verfassung der Bundestagsauflösung entgegensetzt, mit gewagten Griffen überwindet, sozusagen frei über dem Abgrund hängend. Nur wenn wirklich das Verhältnis von Regierung und Bundestag instabil geworden ist, wenn Regierungsunfähigkeit droht – so der Tenor der Rechtfertigung –, darf der Bundespräsident den Bundestag auflösen. Nur eine tiefe Krise erlaubt es, die Operation nicht für das zu nehmen, was sie faktisch ist: die Herbeiführung der verbotenen Selbstauflösung des Parlaments auf dem Umweg von Vertrauensfrage und Präsidenten-Entscheidung. Zu rechtfertigen ist sie nur als Ausnahme, die die Regel bestätigt. Es bedarf einer Situation, in der – wie der frühere Bundespräsident Karl Carstens formulierte, der 1983 eben dieses Manöver praktiziert – „ein politischer Windstoß die Koalitionsmehrheit des Bundeskanzlers gefährden“ könnte.

Aber ist gegenwärtig ein solcher politischer Windstoß zu befürchten? Schröder muss um seine – knappe – Mehrheit nicht bangen: kein Aufstand in der Fraktion, nicht einmal bei den Linken, die dafür am ehesten Gründe hätten, kein Partner, der das Bündnis aufkündigt. Gewiss, Gefahren für Schröder und Rot-Grün gibt es genug – aber sie haben nichts mit dem Bundestag zu tun, sondern mit dem Bundesrat, der mit seiner Mehrheit alles verhindern kann, erst recht nach dem Ausgang der Nordrhein-Westfalen-Wahl. Schröder könnte weiterregieren, bis zum nächsten Herbst, bis zum – vermutlich – bitteren Ende. Er will nur nicht – und das kann ihm jeder nachfühlen. Es sind also politische Gründe, die für Neuwahlen sprechen, nicht solche der Verfassungslage. Es sind plausible Gründe, und man kann – und wird – deshalb diesen Schritt auch rechtfertigen.

Aber zumindest ein schlechtes Gefühl sollte man dabei schon haben. Dass davon nichts zu spüren ist, sich vielmehr alle so benehmen, als sei dieser Umgang mit der Verfassung die selbstverständlichste Sache von der Welt, ist das eigentliche Ärgernis. Die Sache geschieht zum dritten Mal, nach 1972 und 1983. Was als Ausnahme hingenommen werden kann, droht also, zur Regel zu werden. Es wäre an der Zeit, dass die Politik sich ehrlich macht – statt weiter das Vorurteil zu füttern, dass Manipulation zum Geschäft gehört. Wenn sie Neuwahlen beschließt, sollte sie zugleich den Willen bekunden, dem Bundestag ein Auflösungsrecht zu geben. Zwei Verfassungskommissionen haben es vorgeschlagen beziehungsweise erwogen. Es geht also. Nun sollte man es endlich tun.

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