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Filme und Literatur für Kinder: Frei ab acht

"Nicht schon wieder Drogen und Obdachlose!", sagen Schüler, wenn sie wieder einmal einen Problemfilm vorgesetzt kriegen. Warum nicht jeder Stoff, aus dem die Wirklichkeit ist, ein Stoff für Kinder ist - und womit Kinder aufwachsen sollen.

Von Caroline Fetscher

Als der kleine Johann fünf Jahre alt war, hörte er aufgeregte Erwachsene von einer Katastrophe sprechen. An einer fernen Küste sei plötzlich die Erde aufgebrochen, ein Tsunami hatte Land und Leute überflutet, Häuser waren bei dem Erdbeben eingestürzt, Schiffe untergegangen, alte und junge, arme und reiche Leute, Tausende kamen ums Leben. Auf das Kind wirkte die Geschichte wie ein emotionales Erdbeben. Weshalb geschah so grausames Unrecht? Welcher liebe Gott konnte das zulassen?

Mit vollem Namen hieß der Junge Johann Wolfgang von Goethe, und im ersten Buch seiner Lebenserinnerungen „Dichtung und Wahrheit“ berichtete er mit dem Abstand des Alters über sein kindliches Erschrecken: „Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde … die Gemütsruhe des Knaben zum erstenmal im tiefsten erschüttert. Am ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon und verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. Eine große prächtige Residenz, zugleich Handels- und Hafenstadt, wird ungewarnt von dem furchtbarsten Unglück betroffen.“ Der Knabe, „der alles dieses wiederholt vernehmen musste, war nicht wenig betroffen … Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen“. Ähnlich wie dem Kleinen erging es den Großen, Philosophen und Kleriker diskutierten das Desaster. Von ihnen waren „Trostgründe“ und „Strafpredigten“ zu hören.

Niemand allerdings kam damals auf den Gedanken, das Elend nach dem Erdbeben zu einem realistischen Narrativ für Mädchen und Jungen zu verarbeiten oder ihnen „altersgerechte“ Reportagen über Waisenkinder und plündernde Gangs in den zertrümmerten Gassen von Lissabon vorzusetzen.

Erzählerisches Material dieser Art für junges Publikum ist inzwischen üblich, es gilt als das anspruchsvollste und pädagogisch wertvollste. Im jungen Programm der aktuellen Berlinale – „generation k+“ für Kinder, „generation14+“ für Jugendliche – schont der Stoff die Jüngeren nicht. Da wird ein bolivianischer Schuhputzjunge seiner letzten Habe beraubt, er erlebt, wie zerlumpte Demonstranten von der Armee beschossen werden, ein Hund verendet mit herausquellenden Eingeweiden, schließlich stirbt der kleine Protagonist selbst. „Pacha“ heißt der Film, Realismus pur, frei ab 13 Jahren. Beeindruckte Lehrer, vielleicht in Erinnerung an ihre Dritte-Welt-Phase, nahmen sich gleich vor, das mit der Klasse anzusehen: „Die müssen die Wirklichkeit kennenlernen!“

In einem indonesischen Filmepos wartet ein Mädchen vergebens auf den Vater, einen Fischer, der auf dem Meer tödlich verunglückt ist. Um ihre Mutter trauert ein japanisches Mädchen, das sich an einen Schmuck der Toten klammert wie an ein Amulett. Ein philippinischer Junge mit Lippenspalte trotzt dem Spott der Mitschüler und findet in einem Schwerhörigen einen treuen Freund, während auf einem chinesischen Schulhof eine Schülerin so schwer am Auge verletzt wird, dass es zu schweren Konflikten kommt. Unter chilenischer Regie entstand der Film über eine Schülerin mit strikt evangelikalen Eltern, die ihr Sex und Liebe verbieten wollen. Australiens Beitrag führt in eine Haftanstalt für Jugendliche, wo ein friedfertiger Junge gemobbt wird. Aus Belgien kommt der Film über eine Neunjährige, deren Vater mit der Nato in Afghanistan ist. Sie bangt um den Papa und hofft, wenn sie ihren Hund opfert, werde er lebendig wiederkommen. Im finnischen Jugendfilm stirbt die Schwester der Protagonistin bei einem Amoklauf vor einem Nachtclub, im neuseeländischen zwingt ein Vater seinen Sohn zur Arbeit in einem Schlachthof. Im Roadmovie aus den USA gaukelt ein Vater seinen Kindern den Umzug der Familie vor, in Wahrheit entführt er sie, weg von der Mutter. Schwangere Minderjährige begleitet der deutsche Beitrag, Mädchen, die mit 14 Mütter werden. Mit einem alkoholisierten und alleinerziehenden Vater hat es ein Zehnjähriger im niederländischen Film zu tun, ihm bleibt nur ein zahmer Vogel als Gefährte. Auch im schwedischen Film verstört ein alkoholkranker Vater seinen Sohn, der sich mit Walgesängen tröstet. Als der Alte auf Entzug kommt, nimmt eine dörfliche Tante das Kind auf. Kaum geht es dem Jungen dort gut, zerrt ihn das Jugendamt wieder fort. Am Horizont taucht Horror auf statt Hoffen.

Auch Kinder, werden mit Konfliktstoff konfrontiert, kein Weg führt daran vorbei

Überforderte Kinder, versagende Eltern und Ämter, Alkohol, Amoklauf, Krieg und Tod, Behinderung, Scheidung, Lügen, Verwahrlosung, das Fehlen von Empathie und Verantwortung, Tiere und der Rückzug in Fantasien als einziger Trost: Eine bedrohliche Gesellschaft wölbt sich über das Kindsein, das an sich eine Kette an Konfrontationen mit kleinen und großen Katastrophen darstellt. Erleichtert erklären nun Zeitgenossen, die alle diese Filme gesichtet haben, diesmal seien sie, mit wenigen Ausnahmen, feinfühliger und schöner gemacht als in den Jahren zuvor, teils zauberhaft erzählt. Warum auch, lässt sich fragen, sollten Kinder sich nicht mit den Problemen befassen dürfen, die tatsächlich existieren? Scheidung und Mobbing etwa betreffen Millionen. Richtig. Und es kann wohltuend, inspirierend für ein Kind sein, zu erfahren, dass Gleichaltrige unter ähnlichen Belastungen oder Bedingungen leiden. Aber welcher Stoff ist zumutbar? Welcher zuträglich, wie, wann, in welcher Form?

Birgit Murke von der Berliner Literaturinitiative, die seit zehn Jahren an fast 100 Schulen Leseclubs gegründet hat, erlebt oft Überdruss angesichts von Problemstoffen: „Nicht schon wieder Drogen und Obdachlose!“, wehren sich die Schüler. „Diese Reaktion“, sagt Murke, Literaturwissenschaftlerin und Mutter von drei Kindern, „geht quer durch alle Milieus.“ Beobachtet wird ein dynamischer Wandel der fiktionalen Kinderwelten. Als die Berliner Initiative 2002 die Arbeit aufnahm, konnte man zumindest bei jungen Gymnasiasten der Mittelschicht voraussetzen, dass die klassischen Kindernarrative von Erich Kästner, Astrid Lindgren, Otfried Preußler bekannt waren. Damit ist es weitgehend vorbei. Kennen Kinder „Pu der Bär“ oder „Das Dschungelbuch“, dann meist als Zeichentrickversion. Was heute fasziniert, sind sogenannte Fantasygeschichten, Harry Potters Zauberinternet oder Cornelia Funkes magische Tintenblut-Plots. Viele der Jungen begeistern sich für Science-Fiction-Helden, Aliens, Monster, Mädchen für das „Topmodel“. Eine Mehrzahl aller träumt davon, beim Casting als Popsänger entdeckt zu werden; narrationslose Superstar-Selektionen bieten dem Nachwuchs Szenarios für Narzissmus und imaginierte Omnipotenz. Sich jedoch freiwillig in realistische Problemszenarios zu stürzen, das liegt den meisten Teenagern des Medienzeitalters fern. Weil der Alltag vieler Heranwachsender ohnehin problemreich ist? Vielleicht. Weil der pädagogische Appellcharakter der Geschichten Abwehr erzeugt? Kann sein. Oder weil es in der Gesellschaft „uncool“ geworden ist, sich mit „Losern“ und „Opfern“ zu befassen? Vermutlich auch das.

Menschen erzählen Geschichten, meinte der Philosoph Hans Blumenberg, um sich gegen die Welt zur Wehr zu setzen. Sie verursachte den prähistorischen Vorfahren Schrecken. Vulkanausbrüche, Donnergrollen, wilde Tiere, verhagelte Früchte und Hungersnöte, Tod und Überfälle durch Feinde – so sah über Jahrhunderte das Material aus, aus dem sich Mythen, Märchen und Legenden speisten. Erfunden wurden sie, wie die Vorstellungen von Göttern, zur Sinnstiftung, um ein lebensnotwendiges Quantum an Weltvertrauen aufrechtzuerhalten. Auf der Passage zum Happy End naiver Narrative arbeiten sich Lesende oder Zuhörer durch ihre Ängste in Gestalt von Hexen, Riesen und Wölfen, sie überleben in projektiver Identifizierung mit den Protagonisten. Wo deren Mut und Kühnheit Rettung bringen, wo ihnen gute Geister beispringen, wird Zuversicht gesät und die Fantasie dazu inspiriert, auch im realen Leben nach Auswegen und Neuem zu suchen. Man zieht aus, das Fürchten zu lernen, um es zu überwinden. Alle, auch Kinder, werden mit Konfliktstoff konfrontiert, kein Weg führt daran vorbei.

Kinder bevorzugen als Träger für schwere Stoffe Märchen oder Fantasywelten

Zur Gesellschaft gehören Frustrationen, Trauer, Schocks und Widersprüche, es gibt Trennungen, Streit, Rivalitäten, es gibt den Tod. Kinder, je jünger sie sind, bevorzugen als Träger für schwere Stoffe den symbolischen Kosmos der Märchen oder der neomagischen Fantasywelt. Auch da tauchen Bedrohungen auf, Ungerechtigkeit, Arme und Reiche, Verlierer und Gewinner. Es gibt Spuk und Unheimliches, Kinder lieben das Gruselige, solange sie dabei geborgen sind und klar zu fühlen ist, dass begleitende Erwachsene dem Stoff souverän, unerschrocken gewachsen sind. Einen Teil seiner Beunruhigung erfuhr das Kind Johann im Jahr 1755, weil die Erwachsenen selber in Aufruhr waren.

Bei Turbulenzen auf einem Flug achten die nervösen Passagiere auf die Mienen der Stewardessen, auf die Stimme des verantwortlichen Piloten. Bleiben sie klar und unirritiert, kehrt in der Kabine Ruhe ein. So erging es Kindern in Luftschutzkellern. Blieben die Erwachsenen gesammelt, konnten die Kinder sogar spielen oder lernen. Das gibt den Kindern, was Psychologen „Containment“ nennen, das sichere Wissen, dass der schlimme Inhalt den Erwachsenen nicht überschwemmt, dass er ihn fassen, halten, „containen“ kann. Es gilt genauso für Narrative, seien sie Märchen, Texte, Kinofilme, Videos. Auch auf die Intention kommt es an, mit der präsentiert wird, sie durchdringt unweigerlich die Wahrnehmung. Wer sich empathisch in das Kind einfühlen kann, das er selbst mal war, kann am besten entscheiden, was für ein Kind wann und in welchem Alter integrierbar, erträglich ist. Fehlt diese Fähigkeit, diese Anstrengung, wird unter Umständen nur weitergereicht, was der Erwachsene selber nicht ertragen kann oder nicht bewältigt hat, Ressentiments, die ihn steuern, unbewältigte Affekte wie Angst und Wut und Schuld. In ihrer umwälzenden Studie „Das Jahrhundert des Kindes“, die 1900 in Schweden erschien, erkannte Ellen Key in jeder gewaltsamen Dynamik in Familien ein Element der Rache, dabei „rächen die Eltern ihren eigenen Schrecken an den Kindern“. Unser Nachwuchs soll realitätstüchtig werden! Mit dem Argument kann man grausame Stoffe und Erfahrungen zumuten, so erhebt man sadistische Zumutungen in den Rang von Wohltaten, es geschieht zum Besten der Kleinen, die groß werden sollen. Schauermythen ohne guten Ausgang oder tabuhaftes Beschweigen traumatischer Ereignisse bei Erwachsenen sorgen dafür, dass Unbewältigtes in transgenerationeller Traumatisierung weitergereicht wird. Obwohl weder Vertuschen noch das Abwerfen auf die nächste Generation ethischer Umgang mit Traumatischem ist, geschieht das millionenfach.

Und dann gibt es die Elternhäuser, in denen sogenannte Bewahr-Pädagogik geschieht, in denen Abschirmen, Schützen, Geborgenheit das Kernkriterium sind. Kommt in privater Runde die Rede auf Eltern, in deren Haushalt es weder Fernsehen noch Video oder Playstation gibt, herrscht bald Aufruhr. Wie das? Aufwachsen ohne Gewaltdarstellungen und Unterhaltungselektronik? „Später müssen die doch auch damit klarkommen!“ Bewahr-Eltern erwidern: Ja, aber eben später. So lange lesen sie Kinderklassiker, üben Cello oder Klavier, zanken, weinen, lachen, albern herum. Das reicht, die Runde aufzubringen, als wären beim Skatturnier die Karten geklaut worden. Empörung bricht aus in Richtung Spielverderber. Elitär, so mit Kindern umzugehen! Ihr spaltet alles Schlimme ab! So werden eure Kinder doch nicht realitätstauglich! Die laufen sicher zu Nachbarn und glotzen bei denen! Erstaunlicherweise tun sie das im Allgemeinen nicht. Vielmehr gewöhnen sie sich an den Mangel an Reizüberflutung, lesen eine Menge und entwickeln Fantasie. Vorausgesetzt, der wichtigste Kinderwunsch wird erfüllt, um seiner selbst willen angenommen zu sein, so dass Selbstvertrauen entsteht. Später können dann Enttäuschungen kommen, Anstrengungen, traurige, schwere Erfahrungen. Das Kind werde dann Resilienz entwickelt haben und Selbstvertrauen, das sei doch das Ziel, meinen die raren Bewahr-Eltern. Womöglich machen sie einiges richtig.

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