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Meinung: Fluch des Machbaren

Frühgeborene sind häufig dauerhaft geschädigt

Alexander S. Kekulé Im vorletzten Jahrhundert machte man mit extremen Frühgeburten noch kurzen Prozess: Nicht lebensfähige Menschenkinder wurden, wie junge Katzen, in eiskaltem Wasser ertränkt. Später ersetzten Ärzte den Kälteschock durch eine Kaliumspritze, die ebenfalls zum sofortigen Herzstillstand führt. Heute ruft derart beherzte Barmherzigkeit den Staatsanwalt auf den Plan: Weil die Intensivmedizin extreme Frühchen schon ab der 22. Schwangerschaftswoche durchbringen kann, ist nahezu jedes Frühgeborene im Prinzip „lebensfähig“ – zumindest für ein paar Wochen oder Monate, vielleicht auch länger mit mehr oder minder schweren Behinderungen. Die ärztlichen Fachgesellschaften haben festgelegt, dass lebenserhaltende Maßnahmen zu ergreifen sind, „wenn für das Kind auch nur eine kleine Chance zum Leben besteht“.

Die kleine Chance kann jedoch mit großem Leiden verbunden sein: Schwer geschädigte Frühgeborene werden nicht selten durch Beatmung, künstliche Ernährung und Blutwäsche ein oder zwei Jahre am Leben erhalten, bevor sie der Tod aus dem Folterbett der Intensivstation erlöst. Dank der modernen Medizin können selbst Kinder mit schwersten Hirnschäden viele Jahre überleben – ohne Aussicht, jemals von den Apparaten abgeklemmt zu werden.

Auf der anderen Seite steht fest, dass etwa nach der 25. Schwangerschaftswoche die Aussichten auf ein Leben ohne Behinderung steigen. Bis vor kurzem galt die 27. Woche, entsprechend einem Geburtsgewicht von rund 1000 Gramm, als entscheidende Schwelle, ab der Frühgeborene gute Aussichten haben, sich wie Normalgeborene zu entwickeln. Die Grauzone, wo das Leben nur um den Preis von Schmerzen, Krankheit und Entwicklungsstörungen zu erkaufen ist, sollte hier zu Ende sein.

Eine vergagngenen Monat veröffentlichte Studie der US-Universitäten Stanford, Yale und Brown zerstört diese Illusion jedoch. Die Wissenschaftler verglichen erstmalig die Gehirngrößen von inzwischen 8-Jährigen, die um die 28. Woche auf die Welt gekommen waren, mit normal geborenen Gleichaltrigen. Dabei fanden sie bei den Frühgeborenen eine deutlich verkleinerte Großhirnrinde. Zurückgeblieben waren insbesondere die für Sprache, Lesen und Sozialverhalten zuständigen Areale. Weil die Schädigungen bei Jungen wesentlich stärker ausgeprägt waren als bei Mädchen, vermuten die Forscher, dass das männliche Gehirn empfindlicher auf Sauerstoffmangel reagiert, der durch die unreife Lunge verursacht wird. Das könnte auch die bekannte Beobachtung erklären, dass frühgeborene Jungen häufiger Defizite bei der Sprachentwicklung und im Sozialverhalten zeigen als Mädchen.

Die ethische Debatte wird dadurch zusätzlich kompliziert: Offenbar gibt es in der kritischen Zeit vor der 30. Woche keine klare Grenze, ab der von einer normalen späteren Entwicklung ausgegangen werden kann. Wer aber sollte entscheiden, bei welcher Lebenserwartung, bei wie viel geschädigter Hirnmasse menschliches Leben lebenswert ist? Paradoxerweise dürfen Föten aus medizinisch-sozialer Indikation, etwa bei schweren Hirnschäden, bis kurz vor der Geburt abgetrieben werden. Wenn jedoch die Natur selbst eine misslungene Schwangerschaft durch Frühgeburt beendet, müssen Ärzte das Leben nahezu um jeden Preis erhalten. Dabei ist der derzeitige, rapide Anstieg von Frühgeburten ein Ergebnis völlig legaler ärztlicher Tätigkeit: Mindestens jede vierte Frühgeburt geht auf das Konto von Mehrlingsschwangerschaften durch Hormonbehandlungen und In-vitro-Fertilisationen.

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