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Über 100 Flüchtlinge kamen am Donnerstag vor italienischen Insel Lampedusa um. Sie wollten nach Europa.

© Reuters

Flüchtlingsdrama vor Lampedusa: Es sind Europas Tote

Ein Ziel der europäischen Gemeinschaftspolitik lautet Flüchtlingsabwehr. Darin wird viel Geld investiert. Es ist allerhöchste Zeit, dass Europa dieses mörderische Kapitel schließt. Gemeinsam schließt.

Italien hat getan, was Europa hätte tun müssen: Es hat Staatstrauer angeordnet. Mehr als hundert Frauen, Männer und Kinder sind am Donnerstag an seiner Küste ums Leben gekommen, für über zweihundert besteht kaum Hoffnung. Mit der öffentlichen Trauer macht Rom klar: Das sind unsere Toten, nicht nur Italiens Tote, sondern die ganz Europas. Ein immer dichteres Netz von Abschottung, Patrouillen und nicht zuletzt europäischen Verträgen mit den Regierungen Nordafrikas umgibt inzwischen die Festung Europa. Und immer mehr Menschen verlieren darin ihr Leben. Weit entfernt davon, sie von der Flucht abzuhalten, macht es den Weg nach Europa für sie nur stetig lebensgefährlicher. Erst kürzlich berichtete die italienische Presse über einen Afrikaner, der schon viermal versucht hatte, nach Norden zu kommen. Den fünften überlebte er nicht.

Das Mittelmeer ist das große Grab Europas geworden. Und es wird nicht friedlich gestorben, die Flüchtlinge verdursten qualvoll, sie ertrinken. Oft nachdem sie auf ihrem Weg zur afrikanischen Küste überfallen, geschlagen, ausgesetzt, ins Gefängnis geworfen oder zu Sklavenarbeit gezwungen wurden. Das Massensterben wird nördlich des Mittelmeers nicht nur kalt in Kauf genommen, sondern offenbar gewünscht. Wie sonst wäre zu erklären, dass die mit modernster Überwachungstechnik hochgerüstete EU-Grenzagentur Frontex nicht Hilfe erzwingt, wenn Boote wie am Donnerstag in Seenot geraten? Für das „European External Border Surveillance System“ Eurosur zum Beispiel rechneten Wissenschaftler 2012 mit Kosten von 874 Millionen Euro, knapp dem Dreifachen der von Brüssel veranschlagten Summe. Die die Massaker auf See überleben, sind übrigens hochwillkommen und nötig, als Billigarbeiter in Süditaliens Agrarindustrie und weiter nördlich. Ihr rechtloser Status senkt die Arbeitskosten weiter.

Es ist also ausreichend Geld in diesem ebenso zynischen wie sinnlosen Spiel, was erklären mag, warum es weiter gespielt wird. Sinnlos, weil es das behauptete Ziel der Flüchtlingsabwehr nicht nur nicht erreicht, sondern weil schon dieses Ziel falsch ist. Gerade einmal ein Fünftel der Flüchtlinge etwa im Arabischen Frühling zog es nach Europa, kein Vergleich mit der Zahl jener, die vor Elend und Bürgerkrieg in Nachbarländer flüchten, die allesamt viel ärmer sind als jedes EU-Land.

Es ist allerhöchste Zeit, dass Europa dieses mörderische Kapitel Gemeinschaftspolitik endlich schließt. Gemeinsam schließt. Es ist leicht, auf Italien zu zeigen, wo die damals mitregierende Lega Nord Menschenrecht brach, als sie Hilfe für Flüchtlinge unter Strafe stellte. Nicht nur italienische Fischer und die Marine sehen dem Todeskampf auf dem Meer tatenlos zu, wie eine erschütternde Dokumentation des Europarats nachwies. Und dass Deutschland und Österreich sich achselzuckend darauf ausruhen, dass sie zum Glück keinen Ärger mit ein paar tausend Kilometer Küste haben: Das allein genügt, um jede europäische Sonntagsrede Lügen zu strafen.

Es ist allerhöchste Zeit für eine europäische Flüchtlingspolitik, die nicht die vorgeblichen Interessen Europas, sondern die der Flüchtlinge in den Mittelpunkt stellt. So schrecklich dieses mehrhundertfache Sterben vor Lampedusa ist, vielleicht schafft es dieser eine Schrecken, was das stille Sterben von etwa 18 000 Menschen im vergangenen Vierteljahrhundert nicht geschafft hat. Die Flaggen in Italien zeigen: Dort wenigstens hat man diese vermeidbare Tragödie verstanden. Jetzt gilt es zu handeln.

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