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Meinung: Frankreich: Kleines Wunder, matte Stimmung

Acht Monate vor den Präsidentschaftswahlen liegt der Regierungschef Lionel Jospin in den Umfragen bis zu zwölf Prozent hinter dem konservativen Staatspräsidenten Jacques Chirac. Nicht nur die Presse, sondern auch politische Beobachter fragen sich - warum?

Acht Monate vor den Präsidentschaftswahlen liegt der Regierungschef Lionel Jospin in den Umfragen bis zu zwölf Prozent hinter dem konservativen Staatspräsidenten Jacques Chirac. Nicht nur die Presse, sondern auch politische Beobachter fragen sich - warum? Jospins Bilanz, der fünf Jahre ohne große Störfälle im Amt ist, kann sich sehen lassen. Er hat es geschafft, Frankreich in den letzten vier Jahren mit Superlativen auszustatten. Die Arbeitslosigkeit ist zwischendurch auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahren gesunken, das Wirtschaftswachstum erreichte Rekorde. Jospin gelang noch ein kleines Wunder. Mit der 35-Stunden-Woche in Betrieben mit über 20 Angestellten schaffte Frankreich die Umsetzung eines Projekts, über das andere europäische Regierungen nicht einmal mehr zu diskutieren wagen. Alleine dies hat dem Land bislang 400 000 neue Arbeitsplätze beschert. Doch seltsamerweise hat den grundsoliden Regierungschef während der Sommerpause eine leichte Depression erfasst, ein Schwund seines Selbstbewusstseins, der darin gipfelte, dass er am Wochenende den Wahlkampfslogan: "Für ein neues Frankreich" ausgab. Die Presse konnte sich die neue Marschroute nur mit rhetorischer Fantasielosigkeit erklären, denn ein neues Frankreich will niemand. Im Gegenteil: Die Franzosen wollen doch eigentlich dieses Frankreich, das Jospin-Frankreich. Sozial, effektiv, ohne Skandale.

Aber man kann die Geschichte auch anders erzählen: Die Stimmung ist schlecht, wegen der gebremsten US-Wirtschaft steigt, wie überall in Europa, die Arbeitslosigkeit. In den Krankenhäusern wurde zudem der Notstand ausgerufen, weil landesweit 40 000 Stellen im Pflegebereich vakant sind. Terror in Korsika stellt den von Jospin angestrebten Versöhnungsprozess in Frage.

Halb voll, halb leer? Jospin jedenfalls wirkt eher zerknirscht als siegessicher. An ihm klebt das Image farblos und unscheinbar wie ein Steuerprüfer zu sein. Nichts von der Aura, mit der sich, lächelnd und charmant, immer in der Rolle des warmherzigen Landesvaters, sein Gegenspieler, Staatspräsident Jacques Chirac präsentiert. Chirac ist beliebt, trotz der Affären um schwarze Kassen, illegale Parteispenden und dubiose Grundstückskäufe. Für beide, Chirac und Jospin, wird der Wahlmarathon kompliziert. Beide sind in der Kohabitation gefangen. Bislang vertraten beide Amtsinhaber, der linke und der rechte, das Land mit einer Stimme. Damit wird es nun vorbei sein.

Sabine Heimgärtner

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