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Meinung: Freiheit will gelernt sein

Die Politik in Polen, Ungarn und Tschechien bleibt unberechenbar. Populisten triumphieren, weil demokratische Traditionen fehlen

Vielleicht war es ein Vorschein des Wandels, der dann 1989 zum Ereignis wurde. Damals, in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, hieß er „Mitteleuropa“ und war der Gegenstand einer Debatte, die wie ein Radarschirm die beginnenden Veränderungen im Osten Europas aufzufangen versuchte. Ein fast verschollener Teil Europas rührte sich und bestand gegen die ost-westliche Spaltung der Welt darauf, Europa zu sein. Eine Vergangenheit wollte Zukunft werden. Sie stand für die Ahnung von dem, was sein könnte, wenn sich die eiserne Hand der sowjetischen Vorherrschaft zurückzöge. Der heimliche Subtext der Debatte lautete: Zivilgesellschaft an Stelle des Sozialismus, Demokratie statt Diktatur, Normalität als Ende von Enge und Repression.

17 Jahre nach der großen Wende sind die Länder Ostmitteleuropas frei und unabhängig. Aber in Polen führen die nationalkonservativen und populistischen Kaczynski-Zwillinge einen Kulturkampf im Namen des „richtigen“ Polens gegen diejenigen, die offenbar nicht das richtige Polen sind und deshalb auch schon mal „Todfeinde“ des Landes genannt werden. In Ungarn stehen sich Regierung und Opposition gegenüber wie Hund und Katze, der Oppositionsführer verlässt das Parlament, wenn der Ministerpräsident das Wort ergreift und versucht, die Regierung mit einem aggressiven Konfrontationskurs auszuhebeln. In Tschechien haben Parteien und Präsident mehr als ein halbes Jahr gebraucht, um aus dem Wahlergebnis eine Regierung herzustellen. In der Slowakei hat eine liberale Regierung, über die Europa froh war, einem populistischen Regierungschef Platz gemacht.

Dabei waren die Länder Mitteleuropas die Pfadfinder der Überwindung der sowjetisch-kommunistischen Herrschaft. Ohne Solidarnosc kein neues Europa, und es war auch in Polen, wo Mitte 1989 – als, beispielsweise, die DDR-Opposition gerade bei der Entlarvung der Kommunalwahlen angekommen war – die erste parlamentarische Regierung unter Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki ins Amt kam. Und die Ungarn zerschnitten den Stacheldraht an der Grenze nach Österreich, weil die Reformkommunisten schon lange am Staatssozialismus gerüttelt hatten.

Und schien sich nicht auch nach der Wende alles gut, gleichsam wie nach einem Modernisierungfahrplan, anzulassen? Reformkommunisten wurden zu Reformsozialisten und Regierungsparteien, die Marktwirtschaft wurde eingeführt, Kurs auf Nato und EU genommen. Gut, da waren vielleicht ein paar Regierungswechsel zu viel, auch eine zu hektische Wirtschaftsentwicklung. Aber für den gängigen westeuropäischen Blick auf Osteuropa schien es nur eine Frage der Zeit, bis die neuen Länder den Anschluss an den Geleitzug der alten EU-Länder geschafft haben würden.

Stattdessen ist der Aufbruch in die selbstbestimmte Freiheit in die Brandung von Populismus und Polarisierung geraten. Und es gehört zu diesem beklemmenden Eindruck, dass diese Entwicklungen am stärksten in den Ländern zutage getreten sind, die den Wechsel von der Diktatur zur Demokratie auf friedlichem Wege vollzogen haben – und dass dieser Wechsel es ist, an dem sich heute erbitterte Konfrontationen entzünden. Knapp zwei Jahrzehnte nach der Wende tobt in Osteuropa ein Kampf um die Deutung der jüngsten Vergangenheit, der selbstzerfleischende Züge angenommen hat.

Die Wende, auf die Polen und Ungarn doch stolz sein könnten, wird zum Ursprung aller Kalamitäten der Gegenwart erklärt. Sie sei nicht konsequent genug gewesen: keine Abrechnung mit den alten Kräften, keine Aufarbeitung der Vergangenheit, stattdessen ein halbherziger Übergang, bei dem fatalerweise die Kommunisten mit ins Boot genommen wurden. Deshalb hielten die alten Kader, die Geheimdienste und die Wende-Gewinnler noch immer die Fäden in der Hand. Zu den aktuellen Schwierigkeiten, mit denen diese Länder zwischen Ostsee und Donauraum zu kämpfen haben, tritt das Gefühl, um den Ertrag der Wende betrogen worden zu sein.

An diesem düsteren Bild der großen Veränderung entzündet sich in Polen der moralische Rigorismus der Kaczynski-Brüder. Und ausgerechnet der berühmte runde Tisch, an dem seinerzeit von Opposition und Kommunisten die Weichen in Richtung Demokratie gestellt wurden – Vorbild der runden Tische in der DDR – gilt als der entscheidende Sündenfall. Deshalb sind selbst Figuren wie Lech Walesa, der legendäre Solidarnosc-Führer, oder Adam Michnik, der renommierte publizistische Wortführer des Wandels, zum Ziel der Attacken der Kaczynskis und ihrer Büchsenspanner geworden.

Auch in Ungarn wird der Ursprung der im Land grassierenden Enttäuschungen und Konfrontationen auf die Wende datiert. Sie habe die Verhältnisse nicht wirklich gewendet, aber die alten Eliten zu Nutznießern der neuen Freiheiten gemacht. Das wird gern an dem gegenwärtigen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány illustriert: Er war einst kommunistischer Jugendfunktionär, ist verheiratet mit der Enkelin eines hohen Funktionärs der Kadar-Ära und bewohnt auch noch, so wird geflüstert, dessen Haus.

Etliches an diesen Vorwürfen trifft vermutlich zu, noch mehr nicht. Aber auch wenn beispielsweise die Behauptung der Kaczynski-Brüder, es gäbe in Polen einen regelrechten „Pakt“ aus Geheimdiensten, Politik und Kapital, der das Land beherrsche, alle fragwürdigen Züge einer Verschwörungstheorie trägt, darf man vor den problematischen Zügen der Wende nicht die Augen verschließen. Der langjährige Außenminister Wladyslaw Bartoszewski, zugegebenermaßen ein Mann mit scharfer Zunge, hat sie mit dem Gedankenspiel verdeutlicht, dass der Regierung Mazowiecki in Deutschland in etwa eine Regierung entsprochen hätte, in der Rita Süßmuth mit Markus Wolf gesessen hätte – der Innenminister dieser ersten parlamentarischen Regierung war in der Tat ein Geheimdienstmann.

Der Vergleich hinkt wie die meisten Vergleiche. Überdies muss man sich vor Augen halten, dass Polen den Schritt in Richtung Demokratie wagte, als es den Ostblock noch gab und die Sowjettruppen im Lande standen. Doch als Frage, ob und wieweit es richtig war, die alten Kräfte einzubeziehen, oder ob man sie hätte rigoros ausgrenzen müssen und können, ist der Vorbehalt gegen die Wende ernst zu nehmen.

Allerdings: Der rabiate Ton und die rüden Formen, die in die politische Debatte in den neuen EU-Ländern eingezogen sind, haben ihren Ursprung nicht zuletzt auch in ihrer angespannten wirtschaftlichen und sozialen Situation. Die beachtlichen osteuropäischen Wachstumsraten können nicht verdecken, dass die Einführung der Marktwirtschaft erhebliche Wunden gerissen und gewohnte Strukturen zerstört hat. Heute ist die soziale und wirtschaftliche Landschaft in Ostmitteleuropa von Verwerfungen gezeichnet. Denen, die es geschafft haben, mit den neuen Verhältnissen zu leben, stehen (zu) viele Verlierer des großen Umbruchs gegenüber. Vor allem zwischen den wirtschaftlichen Ballungsgebieten und der Provinz verlaufen massive Scheidelinien. Zusammen mit der Überwältigung, die das Überrolltwerden des über vierzig Jahre lang stillgestellten Osteuropa durch die westliche Komfortwelt bedeutete, verdichtet sich das zu einem brisanten, krisenhaften Zustand.

Doch diese Lage hat eben auch damit zu tun, dass der Umbruch auf Politiker traf, die keine Übung darin haben, politische Gegensätze auszutragen und auszuhalten. Dazu kommen knappe, abenteuerlich schwankende Mehrheitsverhältnisse und, in deren Folge, häufige Regierungswechsel. Da wird der Gegner leicht zum Feind, die eigene Gruppe zur schützenden Wagenburg, und als letzter erlösender-sichernder Halt tritt dann die Beschwörung von Heimat, Geschichte und Nation aus dem Dunkel der Geschichte hervor. Sie war in dieser Region eine Geschichte gebeutelter Nationen und Staaten.

Es sind nicht zuletzt diese Rückgriffe, von denen der dumpfe Geruch der 20er und 30er Jahre ausgeht, die für die Staaten der Region zumeist in halb-diktatorischen Regimen endeten. Was Rettung bringen soll, schafft sich zuerst und vor allem seine Feinde. Daher rühren in Polen die im Ausland mit Bestürzung wahrgenommenen Zeugnisse eines katholisch-nationalistischen Patriotismus, der einen beklemmenden Schatten von Misstrauen und Aggressivität wirft. In Ungarn bringt der Oppositionsführer Victor Orbán Vaterland und Heimat unversöhnlich in Stellung gegen die regierenden Sozialisten – und am Rand seiner Kundgebungen züngeln rechtsextreme Fahnen und antisemitische Parolen. Dazu dubiose Zielvorstellungen: Eine vierte Republik in Polen, eine neue Wende in Ungarn.

Es macht die Tragweite dieser Krise der neuen Demokratien in Ostmitteleuropa aus, dass sie kaum zu erklären ist ohne den Rückblick auf die Vergangenheit der ganzen Region. Mit der „historischen Verspätung“ der Gesellschaft seines Landes hat der ungarische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány unlängst versucht, ihr Dilemma zu erklären. Geprägt durch den Kampf um nationale Selbstbehauptung, beladen mit der jahrhundertealten Erfahrung des Unterworfenseins, seien in Ostmitteleuropa Gemeinschaft und Demokratie kaum je zueinandergekommen. Auch das sei ein Grund der Zerrissenheit dieser Gesellschaften, in denen, so Gyurcsány, „die Ängste der um die nationale Gemeinschaft bangenden Rechten und der um Demokratie fürchtenden Sozialisten und Liberalen … sich gegenseitig in Schach halten“.

Aber woher soll denn die demokratische politische Kultur kommen, die notwendig wäre, um den großen Umbruch politisch zu steuern? 40 Jahre Kommunismus haben politisch-seelisch eine Leerstelle hinterlassen. Aber auch davor gibt es zu wenige kollektive Erfahrungen, an die die Länder dieser Region anknüpfen. Es finden sich nur selten Gestalten, an denen sie sich ein Beispiel nehmen könnten.

Gewiss weist ihre Vergangenheit auch Reformperioden auf, aber auf dem Wege in die staatliche Selbstständigkeit, den sie nach dem ersten Weltkrieg eingeschlagen haben, dominieren Gestalten militärisch-autoritären Gepräges – etwa Marschall Josef Pilsudski in Polen, in Ungarn der k.u.k.-Admiral und „Reichsverweser“ Miklós Horthy, und nur in der Tschechoslowakei gab es mit Thomas Masaryk einen demokratischen Anfang. „Waren wir auf die Wende mental vorbereitet?“, hat Ferenc Gyurczány gefragt und geantwortet: „Nein, wir waren es nicht. Auch die Freiheit muss gelernt sein.“ Die Wende sei „nicht die Lösung selbst, sondern eine Möglichkeit, die Lösung zu finden“.

An die tiefere Dimension der gegenwärtigen Auseinandersetzungen hat kein Geringerer als Imre Kertész, der ungarische Literatur-Nobelpreisträger, gerührt. Auch er habe geglaubt, schreibt er in seinem im letzten Jahr erschienenen autobiografischen Selbstgespräch „Dossier K.“, „dass mit dem Verschwinden der anormalen Lebensverhältnisse mit einem Mal alles und alle normal würden“. Dass dem nicht so war, veranlasst ihn zu der Frage, ob den Überlebenden der Diktatur noch genügend Kraft geblieben sei, die Freiheit anzunehmen. Es sei vielleicht die große Frage der Zeit: „Die Menschen blicken nun verstohlen in den Abgrund – der nicht vor, sondern hinter ihnen klafft. Und dieser Abgrund ist ihr Leben.“

Mitteleuropa hat nach Europa zurückgefunden. Dass das Unerwartete geschah, ist – neben dem Ende der Ost-West-Blockade – seine große Leistung. Doch die gegenwärtigen politischen Turbulenzen zeigen, dass die Staaten der Region ihren Vergangenheiten noch längst nicht entkommen sind. Allerdings verfügen sie mit ihrer Zugehörigkeit zur Europäischen Union – anders als in den 20er und 30 Jahren – über einen festen, demokratiesichernden Anker.

So kann man hoffen, dass ihre innenpolitischen Turbulenzen doch nur Stationen auf dem Weg zur Demokratie sind. Doch es kann den übrigen Europäern nicht gleichgültig sein, dass diese Staaten, die endlich an den ersehnten Küsten des Westens angelegt haben, nun in tiefe innere Zerwürfnisse geraten sind. Auch deshalb, weil das Ringen um das Funktionieren der politische Ordnung, um die es in Mitteleuropa heute geht, Demokratien und Demokraten nie gleichgültig lassen kann.

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