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Meinung: Fremde Heimat

Als unser US-Korrespondent nach Washington zog, regierte noch Rot-Grün. Jetzt, bei seiner Rückkehr, stellt er fest: Das Misstrauen der Deutschen gegen die Wirtschaft und ihr Glaube an den Staat sind sogar noch größer geworden.

Acht Jahre sind eine lange Zeit. Sie prägen besonders, wenn man sie im Ausland verbringt. Deutschland hat sich in der Zeit verändert, wir haben uns durch die Erfahrungen in den USA verändert. Da sind diverse Rückkehrschocks unausweichlich. In mancherlei Dingen ist uns die deutsche Heimat fremd geworden. Eine der größten Herausforderungen ist das hierzulande verbreitete Misstrauen gegen die Wirtschaft und der starke Glaube an den Nutzen staatlicher Eingriffe. Diese Haltung ist durch die Erfahrung der Finanzkrise verstärkt worden. Die hat auch in Amerika die Ressentiments gegen große Konzerne wachsen lassen. Alles in allem dominieren dort aber weiter die Skepsis gegen den Staat und der Glaube an die Segnungen privaten Unternehmertums.

Als wir im Juli 2005 nach Washington zogen, regierte noch Rot-Grün unter Gerhard Schröder. Der Anteil des Atomstroms lag damals bei 27 Prozent, der erneuerbarer Energien bei acht Prozent, eine Kilowattstunde kostete Privathaushalte im Schnitt 18 Cent, etwa doppelt so viel wie in den USA. Aus dem Arbeitsamt war eine Arbeitsagentur geworden, was aber nach Angaben vieler Betroffener zunächst wenig an Umgangston und Herangehensweise geändert hatte. Insgesamt war die Öffentlichkeit damals aufgeschlossen für Reformen und eine Liberalisierung der Wirtschaft. In Berlin erleichterte noch kein Tiergartentunnel den Nord-Süd-Verkehr. Doch die Aussicht darauf war, ähnlich wie beim geplanten Großflughafen, ein Grund für Vorfreude und Stolz.

Die Airport-Pannen, an denen Berlin heute leidet, mindern unsere Freude, zurückzukehren, nicht. Die Stadt scheint an unaufgeregtem Selbstbewusstsein gewonnen zu haben, prahlt nicht mehr aufdringlich damit, arm, aber sexy zu sein. Ihre Anziehungskraft auf Menschen aus aller Welt nimmt sie uneitel hin und geht mit Neuankömmlingen aus anderen Kulturen schon fast so gelassen um, wie wir das aus Washington kennen; dort ist die sich ständig verändernde Nationalitätenmischung der Taxifahrer ein verlässlicher Indikator für die herausragenden Krisenregionen der letzten Jahre und für die Aufnahmebereitschaft der USA. Wer in Berlin das sorglos-freundliche Miteinander im Preußenpark in Wilmersdorf beobachtet, wo Menschen aus Zentralasien auf den Rasenflächen selbst gekochte Mittagsimbisse und blank polierte Steinpilze feilbieten, wird im Streit um ein Asylbewerberheim vielleicht nicht gleich die Vorboten drohenden Unheils sehen. Gewöhnungsbedürftig bleibt der Umgang mit Hunden. Gemessen an Washington, wo jeder Halter ein Plastiktütchen dabei hat und den Kot einsammelt, sind Tretminen in Berlin weiterhin ein Ärgernis. Immerhin hat sich die Lage gegenüber 2005 gebessert.

Fremd sind uns heute die verbreiteten deutschen Reflexe im Spannungsfeld von Politik und Wirtschaft – von der Energiewende über Steuererhöhungen und Altersversorgung bis zur Aufsicht über Finanzmärkte, den Mindestlohn oder die offenbar unabwendbare Rekommunalisierung von Stadtwerken. Gut möglich, dass wir, ohne es zu merken, in acht Jahren Amerika Opfer einer Gehirnwäsche geworden sind. Bei der Rückkehr drängt sich uns jedenfalls der Eindruck auf, dass sich die sogenannte Öffentlichkeit in Deutschland für die mutmaßlichen ökonomischen Folgen politischer Entscheidungen nicht sonderlich interessiert – oder solche Hinweise als fragwürdigen Ausdruck von Partikularinteressen abtut.

Der Wirtschaft begegnen viele Deutsche generell mit Misstrauen; die habe nur den Eigennutz im Sinn. Staatliche Eingriffe gelten als gut und gerecht. In den USA hatten wir das genaue Gegenteil erlebt. Dort wird der Staat verteufelt, die Unternehmer genießen Heldenstatus. Auch das ist natürlich Ideologie. Wenn der Staat etwas regulieren möchte, folgen reflexartig Warnungen, dass dies Kosten verursache, und die müssten am Ende die Verbraucher zahlen. Rund die Hälfte der Bürger ist gegen höhere Steuern für Milliardäre. Denn der Staat könne nicht vernünftig mit Geld umgehen.

Der in Deutschland verbreitete Unwille, Wirtschaftsbelange ernsthaft als Teil des nationalen Interesses mit zu bedenken, zeigt sich auch in manchen Reaktionen auf die NSA-Affäre. Die Empörung über den Vertrauensbruch der amerikanischen Dienste ist ja berechtigt – und der Wunsch, diese Anmaßung spürbar zu bestrafen, nur zu verständlich. Die US-Dienste haben in den Jahren nach dem Terrorangriff von 9/11 ein Eigenleben entwickelt und sich der Kontrolle von Parlament und Gerichten immer weiter entzogen. Gut möglich, dass Barack Obama nicht einmal weiß, welche ausländischen Kollegen die NSA überwacht.

Aber haben deutsche Spitzenpolitiker, die jetzt einen Stopp der Gespräche über das Transatlantische Wirtschaftsabkommen (TTIP) fordern, abgewogen, ob diese Maßnahme tatsächlich die USA trifft oder womöglich den deutschen Interessen weit mehr schadet? Bei dem Projekt geht es um Arbeitsplätze in Deutschland, um einen Wachstumsschub in der kriselnden Euro-Zone und um den strategischen Versuch, die Verhaltensregeln für die Zukunft der Weltwirtschaft so weit wie möglich an europäischen Vorstellungen auszurichten. Das Zeitfenster, in dem dies noch Aussicht auf Erfolg hat angesichts des wachsenden Gewichts der Schwellenländer, bleibt nicht unendlich offen.

Es müsste doch möglich sein, der Regierung Obama den Unmut über den Überwachungsskandal deutlich zu machen, ohne sich ins eigene Fleisch zu schneiden. Die USA standen in den vergangenen Jahren vor noch gravierenderen Dilemmata. Da hatten Staaten wie Pakistan, Saudi-Arabien und Ägypten, die sich offiziell als treue Verbündete ausgaben, nicht nur Vertrauen gebrochen, sondern gezielt Aktionen unterstützt, bei denen Amerikaner starben. In US-Medien konnten die Bürger die Abwägungen verfolgen, welche Sanktionen sinnvoll sind und welche nicht.

Das Misstrauen der Amerikaner gegen den Staat sowie ihre Bewunderung für Eigeninitiative und Unternehmertum reicht in die Gründungsgeschichte zurück. Schließlich wurden die USA von Siedlern gegründet, die vor einer allzu bevormundenden Obrigkeit in Europa geflohen waren. Auch die ganz realen Alltagsbedingungen prägen diese Haltungen. Zum amerikanischen Traum gehört das Eigenheim. 70 Prozent wohnen in der selbst genutzten Immobilie. In Deutschland ist es gerade umgekehrt. Weit über 60 Prozent sind Mieter. Die ganz natürliche Folge ist, dass sich in den USA ein fast doppelt so hoher Anteil der Bevölkerung regelmäßig mit Hypothekenzinsen beschäftigen muss – und mit Geldmärkten, denn Amerikaner managen einen erheblichen Teil ihrer Altersvorsorge selbst, über private Anlagedepots. Egal, ob man das gut oder schlecht findet: Es hat zur Folge, dass auch einfache Angestellte den Wirtschaftsteil nutzen, zumindest in Ansätzen wie kleine Unternehmer denken und Empathie für die Firmen entwickeln, in deren Aktien sie investiert haben. Die Deutschen lesen überwiegend die Seiten für Verbraucherschutz, sind im Zweifel Mitglied im Mieterbund und hegen Misstrauen gegen Immobilienbesitzer. Denn die stehen ebenso wie andere Financiers des Wirtschaftslebens im zweifelhaften Ruf, „Spekulanten“ zu sein.

Folglich richtet sich nun, da die Strompreise kontinuierlich steigen, auch hier der Zorn gegen die Energieunternehmen. Sind sie wirklich die Hauptschuldigen an der Preisexplosion? Politiker haben die Energiewende beschlossen – samt dem Mechanismus, dass die Kosten der Abnahmegarantie für die Erzeuger von Wind- und Solarstrom auf die Verbraucher umgelegt werden. Das hat dazu geführt, dass die Kilowattstunde einen durchschnittlichen deutschen Privatverbraucher inzwischen 27 Cent kostet: drei Mal so viel wie in den USA. Demnächst werden es vier Mal so viel sein. Denn nun müssen die Stromnetze modernisiert werden, da der Ökostrom nicht dort produziert wird, wo er gebraucht wird. In den USA liegt der Preis für eine Kilowattstunde bei rund zehn US-Cent, er ist sogar leicht gesunken. Dabei ist der Anteil der erneuerbaren Energien auch dort in den letzten Jahren stark gestiegen und hat sich ungefähr verdoppelt – nur eben nicht verdreifacht wie in Deutschland. Auch die USA haben die Erneuerbaren gefördert, aber auf eine Weise, die nicht die Preise treibt. Die Frage sei gestattet: Wie würde eine Volksabstimmung ausgehen, wenn die Deutschen die Wahl hätten, die Energiewende langsamer, aber preisgünstiger zu haben?

Gewiss, die Kostenexplosion in Deutschland ist nicht allein auf die Ökostromumlage zurückzuführen. Es ist vielmehr deren Kombination mit Steuern und Abgaben. Den Bundesregierungen, gleich welcher Couleur, kann man nicht vorwerfen, kein Ohr für die Wirtschaft zu haben. Sie haben die Stromkosten energieintensiver Unternehmen gekappt, um deren Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Auch diese Kosten werden auf die Verbraucher umgelegt. In den USA waren wir an eine nüchterne Schilderung solcher Zusammenhänge gewöhnt. Dort würde man fragen, ob die politisch gewollte Art der deutschen Energiewende eine gigantische Fehlallokation öffentlicher Mittel mit sich brachte. Erst wurde der Aufbau einer Solarindustrie subventioniert. Nach wenigen Jahren gingen viele Firmen Pleite. China bietet die Paneele billiger an. Führen diese Erfahrungen dazu, die Weisheit der staatlichen Eingriffe infrage zu stellen und die Ursachen der Fehlentwicklungen ehrlich zu analysieren? Die populistische Stimmungsmache gegen Unternehmen überwiegt.

Dabei würde man eine seriöse Diskussion über die Bedingungen für Konkurrenzfähigkeit gerade in Deutschland erwarten. Das hiesige Wohlstandsmodell hängt stärker von einem verlässlichen Erfolg der Exportwirtschaft ab. In Amerika ist der Binnenkonsum der Konjunkturmotor. Angesichts des wachsenden demografischen Drucks und der Alterung der Bevölkerung müssten sich die Deutschen für die Grundlagen ihres Erfolgsmodells interessieren. Es ist eine hoch sensible Balance aus Qualität und Preis. Ja, deutsche Unternehmen können höhere Preise für Maschinen, Medizintechnik und Autos erzielen, weil sich Kunden weltweit davon einen Mehrwert an Effizienz oder Image erhoffen. Dieser Vorsprung ist aber kein Naturgesetz. Wenn das Bildungsniveau dafür nicht mehr ausreicht oder die Kalkulation nicht mehr stimmt, weil Steuern oder Energiepreise zu hoch werden, dann gerät das ganze Modell in Gefahr.

Fördert die öffentliche Debatte das Gespür dafür? Wecken Schulen das Interesse der Kinder an ökonomischen Zusammenhängen? In den USA haben uns Schüler begeistert erzählt, dass unterhaltsame Bücher wie „Freakonomics“ im Unterricht behandelt werden. Welches deutsche Bundesland hat es sich bisher zur Aufgabe gemacht, „Wirtschaft“ als Fach zu lehren und nicht nur Zinseszinsrechnung im Mathematikunterricht?

In vielen deutschen Köpfen dominiert ein humanistisches Bildungsideal. Ökonomische Kenntnisse werden nachgeordnet. Manchmal erleben wir in Gesprächen die gesteigerte Variante: Es ist nicht nur kein Schaden, sich nicht für Wirtschaft zu interessieren. Menschen, die davon nichts verstehen wollen, seien im Zweifel moralisch besser.

Bald können die Berliner im Volksentscheid über die Rekommunalisierung der Energieversorgung entscheiden – wie vor ihnen die Hamburger. Die Initiatoren versprechen ihnen günstigere Preise. Mal ehrlich: Ist das wahrscheinlich? Wenn die Kommune Stadtwerk und Stromnetz zurückkauft, hat sie zusätzlich zu den Stromerzeugungskosten auch Kapitalkosten zu decken. In Hamburg hat eine SPD-geführte Stadtregierung den Bürgern davon abgeraten. Auch in Berlin ist ein Gutteil des Senats skeptisch. Doch das Vorhaben passt in den Trend der Zeit. Die Erfahrungen, dass Landesregierungen auf Dauer kein glückliches Händchen mit Versorgungsbetrieben und Landesbanken haben und der Versuchung erliegen, politische Freunde mit gut dotierten Posten zu versorgen, liegen lange zurück und sind schon fast vergessen. Frisch sind dagegen die Erinnerungen an die Finanzkrise, aus der viele den pauschalen Schluss ziehen, der Privatwirtschaft sei generell mit Misstrauen zu begegnen.

Unternehmer sind nicht Feinde der Gesellschaft. Die meisten tragen zu ihrem Wohlergehen bei. Man könnte sie ein wenig entdämonisieren.

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