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Meinung: Früher Aufbruch in die Moderne

Vor 800 Jahren starb der jüdische Philosoph Moses Maimonides: der große Denker des Zweifels war ein Vorbote der Aufklärung

Auf der einen Waagschale die Wahrheiten des Glaubens, auf der anderen die Experimente der Wissenschaft, die jedes Resultat nur als vorläufige Etappe sieht: Die empirische Forschung und die Heilige Schrift, das sind zwei Systeme, die sich auf den ersten Blick widersprechen. Wie dieser Gegensatz aufgehoben werden kann, darüber diskutiert das geistige Europa seit dem Mittelalter. Kaum einer hat diese Auseinandersetzung so stark geprägt wie Moses Maimonides, der Meister einer Philosophie, der es gelingt, die Unvereinbarkeit der sich widerstreitenden Weltsichten aufzulösen. Sein ganzes Leben lang wandelte Maimonides auf dem Weg des Zweifels. Und gerade wegen seiner Fähigkeit, Widersprüche in ein Instrument der Erkenntnis zu verwandeln, ist er bis heute ein moderner Denker geblieben.

Maimonides, dessen Todestag sich morgen zum 800. Male jährt, war der größte jüdische Philosoph des Mittelalters. Sein Hauptwerk, das den emblematischen Titel „Führer der Unschlüssigen“ trägt, ist an den gerichtet, der sich nicht entscheiden kann zwischen zwei entgegengesetzten Welten, der Welt der Religion und der Rationalität. Das Buch, das um 1190 zunächst in Arabisch geschrieben worden war und schnell ins Hebräische und Lateinische übersetzt wurde, drang in die europäische Kultur ein und wurde bald zu einem Werk von grundlegender Bedeutung. Nicht nur die jüdischen Denker, auch die scholastischen Philosophen, darunter Thomas von Aquin, lasen es mit Eifer und suchten darin jenen geheimnisvollen Punkt, an dem die Bibel mit der Unruhe des logischen Denkens versöhnt wurde und in ein Gleichgewicht geriet. Der Einfluss von Maimonides reichte bis zu Spinoza und dann zum aufklärerischen Denken von Moses Mendelssohn. Man kann sagen, dass die Philosophie – nicht nur die jüdische – immer dort, wo sie nach einem neuen Weg suchte, im „Führer der Unschlüssigen“ ein sicheres Fundament fand, auf dem sich neue Hypothesen aufbauen ließen.

Maimonides wurde in die Kultur der spanischen Juden hineingeboren, die in der Tradition des antiken Judentums standen, das sich hier mit arabischer Eleganz vermischte. Seine Familie war eine der berühmtesten Cordobas. Das Haus, in dem er 1135 das Licht der Welt erblickte, war das Zentrum des intellektuellen Lebens der Stadt. Im Jahr 1148 zerstörte die Invasion der Almohaden diese idyllische Welt abrupt. Die neue Dynastie brachte einen aggressiven, intoleranten Islam mit, so dass viele Juden gezwungen waren, entweder zu konvertieren oder zu fliehen. Die Familie von Maimonides wählte die Emigration und flüchtete nach Nordafrika. Hier vollendete der Jugendliche seine Ausbildung und begann, erste Kostproben seines schriftstellerischen Talents zu geben.

Aber ein friedliches Leben war ihm nie vergönnt. Auch aus Fes musste die Familie fliehen. Später erinnerte sich Moses Maimonides, er habe „zwischen Reisen zu Land und Unwettern zu See“ schreiben gelernt. Die Familie erreichte Akko im Heiligen Land nach einer fürchterlichen Überfahrt, bei der das Schiff mehrmals zu kentern drohte. Moses ist dann weiter nach Jerusalem gezogen und ließ sich für einige Zeit in Alexandria in Ägypten nieder. Von dort ging er nach Fustat, dem alten Kairo, wo er bis zu seinem Tode am 13. Dezember 1204 blieb.

Die ersten Jahre in Ägypten waren die ruhigsten seines Lebens, weil er sich ganz den Büchern widmen konnte. Die Familie zu unterhalten, darum kümmerte sich sein Bruder David, ein Juwelenhändler, der zwischen Indien und dem Mittelmeer hin und her pendelte. Abermals hielt das Schicksal jedoch ein Unglück bereit. Während einer der Reisen starb David. Sein Schiff, das im Indischen Ozean unterging, riss nicht nur das Vermögen der Maimonides mit in die Tiefe, sondern auch Kapital, das dem Bruder von anderen Händlern anvertraut worden war. Um die Schulden zu begleichen, musste Moses sich eine Ertragsquelle suchen. So wählte er den Beruf des Arztes, weil er als Thoragelehrter niemals Geld angenommen hätte. „Es ist besser, eine Drachme als Weber, Schneider oder Tischler zu verdienen“, schrieb er, „als sich abhängig zu machen von einer Lizenz der rabbinischen Autorität“.

Stück für Stück wuchs sein Ruf als Mediziner, bis sein Ruhm auch an den Hof drang. Im Jahre 1185 wurde er dann Arzt von al-Fadil, dem Sekretär Saladins, der faktisch ganz Ägypten regierte. Gleichzeitig erkannte ihn die jüdische Gemeinde als geistlichen Führer an, und immer öfter wandten sich die Juden der ganzen Diaspora um Rat an ihn. Aber nicht einmal dieser neue soziale Status brachte ihm die erwünschte Ruhe. In den Briefen aus jener Zeit erzählt Maimonides, wie er sich aufteilte zwischen seinen Pflichten am Hofe und dem Beistand für seine Religionsgenossen. „Meine Pflichten beim Sultan“, so schrieb er seinem provenzalischen Übersetzer Schmuel ibn Tibbon, „sind wirklich ermüdend. Ich muss ihn jeden Tag besuchen, angefangen am frühen Morgen, und wenn er sich unwohl fühlt oder eines seiner Kinder oder ein Mitglied seines Harems krank ist, muss ich für die meiste Zeit des Tages im Palast bleiben. Deshalb gehe ich sehr früh aus und kehre nicht vor dem Nachmittag nach Hause zurück. Dann sterbe ich fast vor Hunger, finde aber ein volles Vorzimmer vor, gefüllt mit Juden wie Nichtjuden, Edelmännern und Bürgerlichen, Freunde und Feinde, eine bunt gemischte Menschheit, die auf meine Rückkehr wartet. Ich steige ab von meinem Reittier, wasche mir die Hände und widme mich meinen Patienten und bitte sie, ein leichtes Mahl mit mir zu teilen, das einzige, das ich innerhalb von 24 Stunden verzehre. Dann untersuche ich sie, schreibe Rezepte und gebe ihnen Anweisungen für die verschiedenen Krankheiten. Die Patienten kommen und gehen bis zum Sonnenuntergang, manchmal gar bis zur späten Nacht. Wenn es Abend wird bin ich so müde, dass es mir kaum noch gelingt, zu sprechen.“

Dennoch schafft der Mediziner-Philosoph weiter Werke von herausragendem Rang. Wir wissen, dass er seine Arbeit mit eiserner Disziplin organisierte, dass sich mehrere Schreiber ablösten, um seine Aufzeichnungen ins Reine zu schreiben oder Diktate aufzunehmen. In manchen Fällen sind uns Handschriften überliefert, die er selbst korrigierte und durchgehend mit Randbemerkungen versah. Man hat den Eindruck, dass das Werk von Maimonides eine Art Baustelle war, die sich ständig veränderte. Er las Dinge noch einmal und änderte seine Ansichten – manchmal sogar ins Gegenteil. „Ich habe auf eine Weise darüber gedacht“, schrieb er an einen Schüler, „weil ich mich darauf verließ, was andere über diesen Gegenstand geschrieben haben, aber dann bin ich zu dieser Frage zurückgekehrt, habe sie besser verstanden und erkannt, dass die alten Ideen zurückgewiesen werden mussten. Das habe ich getan.“

Diese disziplinierte Kritik erlaubte es Maimonides, ganze Kapitel des jüdischen Rechts und der Philosophie zu revidieren. Sein „Mischneh Torah“ (Wiederholung der Lehre) ist eine Überarbeitung der ganzen rabbinischen Rechtsauslegung, in der die Gesetze der Mischna und des Talmud in einem strengen logischen Schema organisiert sind. Ein Nachschlagewerk, das man bei Bedarf konsultieren kann, geschrieben in einem glasklaren Hebräisch und so jedem zugänglich, der über eine gute, traditionelle jüdische Bildung verfügt.

Aber wie Maimonides Fragen des Rechts vereinfachte und neu aufarbeitete, so ist er in der Philosophie ein elitärer Autor. Der „Führer der Unschlüssigen“ war eigentlich eher als ein privates Schriftstück gedacht, das sich an einen einzigen, brillanten Schüler wandte. Der Meister war nämlich davon überzeugt, dass philosophisches Denken keine Angelegenheit für normale Leser war, sondern ein beschwerliches Unterfangen, das den Glauben einfacher Menschen in Gefahr bringen konnte.

Maimonides zufolge ensteht die „Unschlüssigkeit“ des Lernenden – und die jedes Philosophen, der gleichzeitig gläubig ist – aus der offensichtlichen Unvereinbarkeit zweier Systeme. Auf der einen Seite die Bibel, mit ihrer offenbarten Wahrheit und einem alten, personifiziertem Gott, der straft und belohnt. Auf der anderen Seite die Prämissen des aristotelischen Denkens, das von stringenten Kriterien handelt, einer von stabilen Gesetzen geregelten Natur, die man durch Beobachtung und Verifizierung verstehen kann. Die Lösung, die Maimonides vorschlägt, ist die der Vielfältigkeit der Bedeutungen; die Idee, dass sich unter der Oberfläche des biblischen Textes weitere Bedeutungsebenen verbergen, die es erlauben, eine Übereinstimmung mit der Lehre der Philosophen zu finden.

Es ist offensichtlich, dass eine solche Sicht das Konzept der „doppelten Wahrheit“ impliziert. Wenn die biblischen Erzählungen mit ihren lebhaften Farben und ihren menschlichen Leidenschaften den Glauben der vielen erhalten, sind den Gelehrten die Instrumente der Allegorie vorbehalten, die es erlauben, auch aus der Schrift dieselben Prinzipien abzuleiten, die die Logik und die Wissenschaft inspirieren.

Die „aristotelische Bibel“ des Maimonides gefiel vielen innovativen Geistern, aber sie rief die Wut konservativer Kreise hervor. Die griechische Philosophie wurde gemeinhin als heidnische Lehre betrachtet, und dieses Zurechtbiegen der Schrift auf die Bedürfnisse des Syllogismus und der empirischen Physik erschien fast als Sakrileg. Im 13. Jahrhundert, als der „Führer der Unschlüssigen“ auch in Europa Verbreitung fand, gab es manchen, der ihn verbieten wollte. Zuweilen wurde er gar öffentlich verbrannt. Aber das war ein Widerstand, der zum Scheitern verurteilt war, weil auch diejenigen, die dem Werk öffentlich abschwörten, es am Ende auf dem Schreibtisch liegen hatten. Man benutzte es, um die Schrift auszulegen, und suchte darin jenes philosophische Lexikon, das inzwischen zu einem essentiellen Geist der Epoche geworden war. Im 13. und 14. Jahrhundert gab es so viele Kommmentare zu Maimonides’ Schrift, dass sie zum herausragenden Philosophiebuch wurde. Ein Handbuch, mit dem Generationen von Intellektuellen geformt wurden.

Der Ruf Maimonides’ verbreitete sich schnell über die Grenzen des Judentums hinaus, Übersetzungen erschienen wie auch lateinische Adaptionen. Christlichen Theologen kam es sehr gelegen, die Bibel nun nach den aristotelischen Prinzipien durchforsten zu können. Unter den Lesern waren Denker wie Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Meister Eckhart. Im Vergleich zu den muslimischen Meistern wie Alfarabi, Avicenna und Averroes bot Maimonides eine direkte Untersuchung des Alten Testaments und trug die Philosophie damit ins Herz der biblischen Offenbarung, auf jenes Gebiet, dass Judentum und Christentum gemeinsam hatten.

Darüberhinaus gelang es dem „Führer der Unschlüssigen“, die Grenzen des Mittelalters zu überwinden und zu einem Motor theoretischer Innovation zu werden. Spinoza lernte von Maimonides, die aristokratische Kraft der Vernunft zu bewundern. Der Prolog zum „Theologisch-politischen Traktat“ – mit dem der Rebell von Amsterdam das Verhältnis der europäischen Kultur zur Bibel revolutionierte – ist im selben elitären Geist geschrieben wie die Einleitung für den „Führer der Unschlüssigen“. Tatsächlich übernahm Spinoza die Idee einer Rationalität, die die Fähigkeit hat, sich über alle Widersprüche hinwegzusetzen und zu einer klaren Erkenntnis der Wahrheit zu finden. Aber während es Maimonides verstanden hatte, die Logik im Rahmen der Offenbarung zu halten, entschied sich Spinoza, das empfindliche Gleichgewicht zu zerstören und sich allein für den Gott im Inneren jedes Menschen zu entscheiden.

Mitte des 18. Jahrhunderts, als der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn sich aufmachte, die Grundlagen des Judentums gemäß aufklärerischer Prinzipien neu zu denken, wandte er sich noch einmal den alten Seiten des „Führers der Unschlüssigen“ zu. In Maimonides fand Mendelssohn ein Modell, dass er nachahmen konnte. Und so entstand ein jüdisches Projekt, das den Mut hatte, die eigenen Dogmen kritisch zu überprüfen. Die ausgefeilten Überlegungen aus dem Kairo des 12. Jahrhunderts erhielten so im Berlin Friedrichs des Großen eine neue Aktualität und dienten dazu, jenem reformierten Judentum historische Tiefe zu verleihen, das das Leben des deutschen Judentum bis zur Tragödie der Shoa bestimmte.

Das Geheimnis der Vitalität des Mamonidesschen Denkens besteht letztlich im kreativen Umgang mit dem Zweifel. Maimonides hatte verstanden, dass es die Randzonen einer Tradition waren, die eine besonders hohe kulturelle Intensität aufwiesen. Und so war es ihm gelungen, zu zeigen, dass man an jenem ausgefransten Rand, wo die Philosophie sich in die Religion verkeilt, die Samen authentischen Wissens findet.

Aus dem Italienischen von Clemens Wergin

Giulio Busi

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