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Der bekennende Nichtwähler ist bislang nur ein Schwänzer, ein Verweigerer.

© dpa

Für eine Wahlpflicht!: Ratlos vorm Kühlregal

In fünf EU-Staaten gibt es eine Wahlpflicht. Dem guten deutschen Demokraten gilt sie indes als pfui. Höchste Zeit, dass sich das ändert.

Pünktlich zum Wahlkampffinale posiert der Nichtwähler. Wissenschaftler, Künstler, Intellektuelle, die wissen lassen, dass alles sowieso nichts bringt. Dass sie, Quer- und Freidenker, die sie sind, von ihrem Recht Gebrauch machen, bei der Beschaffung von Legitimation für politische Entscheidungen abseits zu stehen; Postdemokratie und so. Dieses Gerede und nicht das um die Wahlmüdigkeit ist es, das auf einen Reformbedarf verweist: die Einführung der Wahlpflicht.

Der schlappe Bürger, der am Wahltag lieber mit den Kindern spielt, muss uns keine Sorgen machen. Sein Schweigen bedeutet dasselbe wie das Schweigen der Kaufleute auf Bestätigungsschreiben im Handelsbrauch, nämlich Zustimmung. Ein solcher Wähler sagt nicht nein, er sagt ja. Er vertraut. Und zwar denen, die wählen gehen, und den Kandidaten und Parteien, die jene wählen werden.

Bedenklich wird es, wenn dieser Zusammenhang bestritten und das Nichtwählen zur politischen Betätigung eigener Art erhoben wird. Andere könnten sich dies zum Vorbild nehmen. Die gültige Legitimationskette zum Abstinenzler wäre durchbrochen.

Sind wir schon so weit? Gewisse Wahrnehmungen sprechen dafür. So ist die Rede davon, die Parteien seien ununterscheidbar geworden, es sei egal, wen man wähle. Einer objektiven Prüfung hält diese Behauptung nicht stand.

Wohl noch nie gab es eine so große Bandbreite politischer Positionen wie heute. Wir verfügen zudem über möglicherweise bald drei Volksparteien, wobei es nur ein Volk gibt. Es scheint daher so, als rühre der Verdruss nicht von Ohnmachtsgefühlen und fehlender Unterscheidbarkeit her, sondern eher aus dem Gegenteil: Wir haben ein in seiner Vielfalt unüberblickbares Überangebot. Wir werden von Politikmasse förmlich erdrückt. Es ist wie beim Supermarktkunden, der ratlos vor einem dieser gigantischen modernen Kühlregale steht und denkt: Unfassbar, was man aus Milch alles machen kann. Der sich überfordert abwendet und dann vergisst, was er eigentlich einkaufen wollte.

Nötig wäre nicht mehr als nur ein Moment der Einkehr und Besinnung. Ihn könnte eine Wahlpflicht erzeugen. Als Pflicht zur Teilnahme wohlgemerkt, nicht als Pflicht zu wählen. Selbstverständlich muss man sich auch enthalten dürfen. Aber das sollte mit Bedacht geschehen und ein expliziter Ausdruck freier Entscheidung sein. Egal, ob per Brief oder im Wahllokal.

Eine Wahlpflicht gibt es in fünf EU-Staaten, doch dem guten deutschen Demokraten gilt sie als pfui, weil Wahlen laut Grundgesetz allgemein, unmittelbar, gleich, geheim und frei (!) stattzufinden haben. Geschützt wird damit jedoch nur die eigene Präferenz, die Freiheit des konkreten Wahlwillens. Selbst wenn man, wie viele Verfassungsrechtler, die bloße Teilnahme schon von diesem Schutz umfasst sieht, wäre die Einführung der Wahlpflicht mit einer Änderung des Grundgesetzes prinzipiell möglich.

Einer der positiven Effekte wäre, dass überzeugtes Nichtwählen als Rechtsbruch stigmatisiert wäre. Der Gratismut der notorischen Bekenner würde plötzlich kostenpflichtig werden. Echte Verweigerer hatten immer mit Sanktionen zu rechnen. Man erinnere sich an die Totalverweigerer beim Wehrdienst. Auch überzeugten Schulverweigerern ist mit Respekt zu begegnen, soweit es keine Schwänzer sind. Echte Verweigerung, der bewusste Normübertritt, ist häufig der Beginn von etwas Neuem.

Ohne eine Pflicht ist der bekennende Nichtwähler von heute bloß ein Schwänzer, ein Verweigerer kann aus ihm nicht werden. Bloße Passivität in eine Revolution umzudeuten, gelingt nicht, auch wenn die Nichtwählerei noch so offensiv und geistvoll durchgründelt zur Schau getragen wird. Erst eine Wahlpflicht würde die Helden schaffen, die politischer Fortschritt ab und zu braucht.

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