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Wer immer strebend sich bemüht...

© dpa

G8, G9 und Turboabitur: Das größte Problem sind die Kultusminister

Sollen Schüler nach 12 oder 13 Jahren ihr Abitur machen? Der Streit darüber ist in vielen Bundesländern neu entfacht. Der Stress für die Kinder sei zu groß, sagen die Verfechter von G9. Doch das größere Problem ist die Sprunghaftigkeit der Zuständigen.

Pia hat eine Menge Stress. Bei der Berliner Elftklässlerin stehen nicht nur bis zu 38 Unterrichtsstunden auf dem Plan, sondern auch noch ein straffes Sportprogramm: Montags ist der Bauch-Beine- Po-Kurs dran, mittwochs die Tanzstunde und freitags wartet die Zumba-Truppe. Nebenbei müssen noch täglich zwei Stunden Facebook bewältigt werden, und das eine oder andere Referat ist auch zu halten, wenn man im Abi eine 1 vorm Komma anstrebt. Vor Klausuren wird die Nacht zum Tage gemacht, denn Pia käme nie auf die Idee, wegen anstehender Prüfungen das Sportprogramm zu schleifen oder das Wochenende zu ruinieren.

Genauso wenig fiele es der Gymnasiastin ein, sich das Abitur nach 13 Jahren zurückzuwünschen. Da ist sie sich mit ihren Freundinnen einig. Genau genommen würden die Mädchen über diese Frage nicht einmal nachdenken, wenn das Thema nicht immer wieder durch die Nachrichten geistern würde. Allerdings haben sie den Überblick verloren, in welchem Bundesland gerade welcher Punkt der Diskussion erreicht ist.

Tatsächlich ist es zurzeit nahezu unmöglich, den aktuellen Stand in allen 16 Bundesländern zu verfolgen. Die Verwirrung wird dadurch komplett, dass die Streitlinie nicht entlang der Parteigrenzen verläuft, sondern im Zickzack zwischen Wahlterminen: Wann immer das Turboabitur als Wahlkampfthema auftaucht, knickt irgendein Landesfürst ein und stellt die Schulzeitverkürzung zur Disposition. Denn keiner von ihnen will wegen eines derartigen Themas die Wahl verlieren. Dann schon lieber ein bisschen reformieren und sich beliebt machen mit einem Rückgriff auf die gute alte Zeit, als Schule noch lustig und spätestens um 13 Uhr 10 zu Ende war.

Tatsächlich klingt die Vorstellung verlockend, dass die Schüler wieder mehr Zeit am Nachmittag haben könnten. Eltern fällt eine Menge ein, was ihre Kinder mit der gewonnenen Zeit anfangen könnten. Mehr lesen, ein zweites Instrument spielen, den freiwilligen Religionsunterricht besuchen, nennt Sebastian Claudius Semler als Beispiele. Der Elternvertreter aus Berlin-Charlottenburg hält nichts davon, den Unterrichtsstoff zu entschlacken, um das Turboabitur erträglicher zu machen: „Die Schüler sollen Bildung mitnehmen“, verteidigt er die bisherige Stofffülle. Aber damit sie nicht an ihre psychischen und physischen Grenzen stoßen, sollen die Gymnasiasten dafür wieder 13 Jahre Zeit haben, fordert der engagierte Vater ungeachtet der Tatsache, dass Berliner Turboabiturienten nicht schlechter abschneiden als ihre Vorgänger mit 13-jährigen Schulzeit.

Die Kehrtwende Niedersachsens hat dem Protest neuen Auftrieb gegeben

Semler gehört zu den wenigen Berliner Elternvertretern, die für das Thema brennen. Kein Vergleich mit Hamburg, wo wütende Eltern den Senat mit einer Volksinitiative vor sich hertreiben. Oder mit Bayern, wo die im Juli startende Unterschriftensammlung für ein Volksbegehren die CSU in Angst und Schrecken versetzt. Oder mit Nordrhein-Westfalen, wo die grüne Kultusministerin an diesem Montag zum Runden Tisch lädt, um die Turbokritiker zu besänftigen.

Niedersachsens im März gefällte Entscheidung, komplett zum Abitur nach 13 Jahren – dem sogenannten „G 9“ wegen der neun Gymnasialjahre – zurückzukehren, hat den Kritikern der Beschleunigung in den anderen Bundesländern erheblich Auftrieb gegeben. Aber sie waren auch vorher nicht untätig. Vier Bundesländer hatten aufgrund der Kritik schon in den vergangenen Jahren damit beginnen müssen, einzelnen Gymnasien die freiwillige Rückkehr zur Langversion zu erlauben. Zunächst war die Resonanz verhalten, inzwischen kehren – zumindest in Hessen – immer mehr Schulen zur alten Façon zurück.

Kulturhoheit der Länder in Praxis.
Kulturhoheit der Länder in Praxis.

© Illustration: Klaus Stuttmann

Das Argument der Schulen ist immer das gleiche: Man wolle „weniger Stress“ für die Schüler. Aber auch manche Lehrer versprechen sich von der Verlängerung der Abiturzeit Vorteile, weil der Unterricht nicht mehr so weit in den Nachmittag hineinreichen würde. Andere ergänzen, dass ältere Schüler besser imstande seien, anspruchsvolle philosophische Fragen und literarische Texte zu durchdringen. Und sie glauben, dass sie den Stoff besser vertiefen könnten, wenn die gleiche Zahl zur Verfügung stehender Stunden nicht über 12, sondern über 13 Jahre verteilt ist.

„Die Kollegen sind unzufrieden, dass immer mehr Aufgaben auf sie zukommen. Dem G 8 wird alles angeheftet, was man an Problemen hat. Man kann aber nicht zurück in ein verlorenes Paradies“, weist hingegen der Philologenverband in NRW die Erwartungen mancher Mitglieder zurück. Allerdings ist der Chor auch beim Philologenverband vielstimmig. So wollen die bayerischen Vertreter zurück zu G 9. Und der Bundesvorsitzende mahnt die Politik, „dass sich der Elternwille nicht stoppen lässt“.

Studien widerlegen die Behauptung von gestressteren Turboabiturienten

Der Elternwille allerdings ist keine feste Größe, sondern abhängig davon, wie im jeweiligen Bundesland die Verkürzung des Abiturs umgesetzt wird. Die Eltern der bereits zitierten Berlinerin Pia haben überhaupt kein Problem mit G 8, weil die Schule die Stundenfülle gut organisiert. Doppelstunden führen dazu, dass ihre Tochter nicht sieben oder acht, sondern nur vier verschiedene Fächer pro Tag hat, was die Hausaufgaben reduziert. Zudem gibt es eine Mittagspause, die lang genug ist, um etwas zu essen und sich zu erholen. Zudem ist der Stundenplan so gebaut, dass Freistunden vermieden werden. Deshalb ist ihre Tochter meist vor 15 Uhr zu Hause. Die beiden langen Nachmittage bestehen aus Sportunterricht und einem Kursus, der nur „abgesessen“ und nicht als Zensur in die Abiturnote eingebracht werden muss. „Wenn Pia früher nach Haus käme, hätte sie noch mehr Leerlauf“, findet ihre Mutter und blinzelt zum PC ihrer Tochter, auf dem – wie meist – die Facebook-Seite lauert.

Dass G 8 nicht unbedingt stressig sein muss, bestätigt eine aktuelle Studie der Erziehungswissenschaftlern Svenja Kühn von der Universität Duisburg-Essen . Dort wurden Erstsemester aus mehreren Bundesländern befragt. Das Ergebnis lautete, dass sich die Turboabiturienten nicht gestresster fühlten als diejenigen, die 13 Jahre bis zum Abitur Zeit hatten. Zum selben Ergebnis kam eine medizinische Studie in München. Die immer wieder gehörte Behauptung, dass es infolge des Turboabiturs mehr Fälle von Magersucht gebe, entbehrt demnach jeder Grundlage. „Wenn eine Psychologin plötzlich zehn statt fünf Fälle von Magersucht hatte, ist das eine subjektive Einsicht“, kommentierte denn auch Bildungsforscher Wilfried Bos jüngst in einem Tagesspiegel-Interview entsprechende Ausführungen einer Verfechterin von G 9.

Nicht subjektiv sondern objektiv ist der Befund, dass die Turboabiturienten heute im Schnitt 18 Jahre alt sind und nicht mehr 19 wie vor der Schulzeitverkürzung. Genau dieser Punkt aber bildete die Ausgangslage für die vor rund zehn Jahren beschlossene Schulzeitverkürzung. Deutschlands Abiturienten zählten international zu den ältesten Schulabsolventen. Angesichts der demografischen Entwicklung und der dramatischen Überalterung der Gesellschaft kamen die Bundesländer überein, die Schulzeit zu verkürzen. Dafür sprach und spricht auch der Fachkräftemangel, der den Wirtschaftsstandort Deutschland gefährdet.

Angesichts der um sich greifenden Sehnsucht nach dem Lang-Abitur warnen immer mehr Forscher vor den Folgen eines erneuten Schwenks. So rechnet der renommierte Erziehungswissenschaftler Klaus Klemm vor, dass pro Gymnasium zwei bis drei Lehrer zusätzlich gebraucht würden, wenn das 13. Jahr wieder hinzukäme. Allein für Niedersachsen würde dies Mehrausgaben von rund 60 Millionen Euro jährlich bedeuten. Zudem würde die im Aufbau befindliche Einführung des Ganztagsbetriebs zum Erliegen kommen, wenn die Gymnasien wieder auf 13 Jahre gestreckt würden. Alle Lehrer und Schulleiter, die sich schwergetan haben mit dem Akzeptieren eines auch nachmittäglichen Schullebens, bekämen wieder Oberhand. Alle Versuche, eine längere Mittagspause einzuführen und das Gymnasium zu einem ganztägigen Arbeitsort zu machen, wie es international selbstverständlich ist und den meisten Familien entgegenkommt, würden im Sande verlaufen. Die „Rolle rückwärts“ würde aber nicht nur Lehrerstellen, sondern auch viel Kraft kosten, denn Lehrpläne und Schulbücher müssten abermals umgestellt werden. Diese Kraft ginge zulasten des Unterrichts und der beteiligten Schüler und Lehrer.

In den neuen Bundesländern bereitet G8 keine Probleme, weil es Routine ist

Welche Vorteile es hat, bei einem einmal gefundenen und bewährten Konzept zu bleiben, offenbart ein Blick in die ostdeutschen Länder, die an G 8 festgehalten haben. Hier werden beste Ergebnisse erzielt, und Klagen gibt es nicht, weil das System eingespielt ist. „Die größte Gefahr für die Bildungspolitik ist, sie in jedem Jahr zu ändern. Da ist man bekloppt“, mahnt denn auch in gewohnt klaren Worten der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Torsten Albig in einem Interview des Hamburger Abendblattes. Im Gegensatz zu seinem niedersächsischen Amtskollegen und Genossen Stefan Weil, der das Turboabitur gerade komplett abschaffte, hält er nichts von einer Rückbesinnung auf G 9. Vielmehr bedauert Albig, „dass Schulpolitik immer stärker abhängig wird von der Sonntagsfrage“. Ein Blättlein im Wind.

Das Rollback bei der Schuldauer offenbart eine erstaunliche Rückgratlosigkeit der Landesregierungen. Hemmungslos wird die Fahne in den Wind gehängt, anstatt eine einmal beschlossene Reform konsequent und umsichtig umzusetzen. Dies ist im Falle der Schulzeitverlängerung besonders verhängnisvoll, denn eine Kehrtwende macht nicht nur die jahrelangen Reformanstrengungen in den Gymnasien zunichte, sondern beeinträchtigt auch die zweite Schulsäule, die je nach Bundesland Sekundar-, Gesamt-, Oberschule oder Gemeinschaftsschule heißt. Diese Säule lebt davon, dass sie auch vom mittleren Leistungsspektrum der Schüler besucht wird. Dieses Spektrum bevorzugt den 13-jährigen Weg zum Abitur. Wenn dieser Weg auch von den Gymnasien angeboten wird, drängen noch mehr Schüler auf die Gymnasien, und es verbleiben noch weniger abiturfähige Schüler für die zweite Säule – eine Tendenz, die bereits in Frankfurt am Main zu beobachten ist.

Die Rückkehr zu G9 lockt noch schwächere Schüler an Gymnasium

Im Gegenzug wird das Leistungsniveau an den Gymnasien noch schwächer. Schon jetzt ist das Niveau im Sinkflug begriffen, weil fast jeder Zugang hat: Angesichts einer Gymnasiastenquote von rund 50 Prozent ist es kaum möglich, Spitzenleistung zu verlangen. Wer „richtiges“ Gymnasialniveau sucht, findet es nur noch an einzelnen Gymnasien. Meist sind es die altsprachlichen Gymnasien, die Schnelllernerschulen oder die Gymnasien mit naturwissenschaftlicher Ausrichtung sowie einzelne Vorzeigeschulen wie das Kaiserin-Friedrich-Gymnasium in Bad Homburg, die Kieler Gelehrtenschule oder das Gymnasium Steglitz in Berlin. Die große Masse der Gymnasien kann seine guten Durchschnittsnoten nur deshalb halten, weil die Ansprüche teilweise auf einem jämmerlichen Niveau angekommen ist.

Wenn weniger mittelmäßige Schüler das Gymnasium besuchen würden, täte das dem Niveau gut, und gleichzeitig gäbe es noch weniger Probleme mit der verkürzten Schulzeit. Hingegen würde die zweite Säule der Oberschulen profitieren, weil sie mehr Schüler aus dem mittleren Leistungsfeld an sich ziehen könnten.

Dieses Argument lässt Niedersachsens Ministerpräsident Stefan Weil nicht gelten. Im verkürzten Bildungsgang sieht er eine „Schlechterstellung“ der Gymnasien. Und er sieht nicht ein, warum er die Gymnasien „künstlich benachteiligen soll, nur um die Gesamtschulen zu fördern“. Und noch etwas lässt Weil kalt: Der Wunsch von Familien nach Mobilität: Mit seinem reinen G 9-Modell erschwert der Hannoversche Ministerpräsident es seinen Landeskindern, in Bundesländer mit G 8-Systemen umzuziehen.

Die Sprunghaftigkeit der Schulpolitik zeigt überhaupt eine merkwürdige Ignoranz gegenüber den ansonsten so viel beschworenen Globalisierungsfolgen. Während die Hochschulen mit ihrem Bolognaprozess zumindest versuchen, ein internationales Studium zu erleichtern, versagen die Schulpolitiker mit ihrer sorgsam gehüteten Kulturhoheit schon bei dem bescheidenen Ziel, Schülern zumindest innerhalb Deutschlands einen Wechsel zu erleichtern.

Pia rollt die Augen und trollt sich ins Fitnessstudio, wo sie davon träumt, als 18-Jährige nach Amerika zu gehen. Deutschland mit seiner Kleinstaaterei ist ihr „zu piefig“.

Susanne Vieth-Entus ist Redakteurin beim Tagesspiegel und befasst sich seit vielen Jahren mit Schul- und Bildungsthemen.
Susanne Vieth-Entus ist Redakteurin beim Tagesspiegel und befasst sich seit vielen Jahren mit Schul- und Bildungsthemen.

© Doris Klaas

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